(Rolf-Peter und Herbert Wille
vor dem Bunker auf dem Nussberg
in Braunschweig, 13. 10. 1957)




Ein neuer Weltkrieg? Undenkbar! Unsere Erinnerung an den letzten wird es verhindern. Welche Erinnerung eigentlich?

"Wo liegt Afghanistan?" fragte ich meine Klavierschüler neulich in Taipei. "Irgendwo in Osteuropa…" meinten viele, "Afrika?" rieten andere. "Glaubt Ihr, dass ich noch im zweiten Weltkrieg gekämpft habe?" frage ich sie (ich bin 1954 geboren). Sie trauen sich nicht, darauf zu antworten. War der Vietnam Krieg vor oder nach dem zweiten Weltkrieg? Hmm…, schwer zu sagen…

Es sind wohl nur einige Hollywood Filme, die überhaupt irgendwelche Bilder hinterlassen haben. Ist es eigentlich besser bei mir selbst? Kriegsfilme habe ich jede Menge gesehen. Doch die eigenen Eltern, die ja mit dem Alltag vertraut waren, hat man wohl oft erzählen gehört. Aber man hat sich nicht viel dabei gedacht. Die schreckliche Bauchnarbe meines Vaters schien mir nichts besonderes: Väter haben Bauchnarben. Eine Narbe ist wie ein Krater, ein erloschener Vulkan. Aber vielleicht kann er doch wieder ausbrechen. Als mein Vater letztes Jahr (2007) eine Rückenoperation hatte und aus der Narkose erwachte, glaubte er, er läge noch im Reservelazarett. Er vermeinte zu hören, dass die Ärzte immer noch Splitter in der Bauchwunde fanden. "Da sind ja immer noch Splitter drin," hörte er den Arzt sagen. Die Erinnerung hatte mühelos 62 Jahre übersprungen. Vor 62 Jahren hatte man ihn bereits zum Sterben ins Badezimmer des Lazaretts abgeschoben.

Aber was war eigentlich passiert?




Erster Teil:




Herbert Wille: Es muß der 2. oder 3. Februar 1945 gewesen sein; ganz genau kann ich das nicht mehr datieren. Wir fuhren mit einem "Wanderer"-PKW.

Rolf-Peter Wille: War das ein Luxuswagen oder eine Klapperkiste?

HW: Das war kein Luxuswagen, sondern ein damals gängiger Wagen der unteren Mittelklasse der Marke "Wanderer", die es nach dem Kriege nicht mehr gab.
Wir fuhren auf der Straße von Bartenstein [Bartoszyce] über Preußisch Eylau [Bagrationovsk ] in Richtung Königsberg [Kaliningrad], wir – das heißt mein Fahrer, neben dem ich saß, und hinter uns auf der Rückbank ein Obergefreiter der Stabskompanie – an die Namen der beiden kann ich mich nicht mehr entsinnen, es ist zu lange her.

RPW: Kannst Du Dich an Charakter- oder Körpermerkmale der beiden erinnern? Wie war die Stimmung im Auto?

HW: An Charakter und Aussehen der beiden habe ich keine genaue Erinnerung mehr. Die Stimmung im Auto war wesentlich von Müdigkeit und Ungewißheit über unsere Lage geprägt.
So um den 25. Januar hatte unser Regiment die Stellungen am Narew zwischen Nowogrod und Lomscha in Nordpolen etwa 60 km südlich der Grenze zu Ostpreußen aufgegeben, ohne daß ein Angriff der russischen Gegner über das Eis des zugefrorenen Flusses erfolgt war. Wir hörten nur, der Rückzug erfolge auf Befehl der Heeresleitung, da durch den am 15. Januar begonnenen Großangriff der Roten Armee aus östlicher Richtung auf Königsberg zu für uns und große Teile der Wehrmacht die Gefahr der Einkesselung bestand. Ich war ein junger Leutnant – seit etwa 2½ Jahren Soldat - und bekam den Befehl, gewissermaßen als Vorkommando in Richtung Königsberg zu fahren und südlich der Stadt die Ankunft des Regiments abzuwarten und die Wartezeit zu nutzen, Gelände, Örtlichkeiten, Lage usw. zu erkunden und zu beobachten und dem wahrscheinlich erheblich später eintreffenden Regimentskommandeur – mit dem Regiment, seinen vielen Soldaten (rund 800), den Fahrzeugen, Geschützen usw. – zu berichten und mit Ratschlägen zu dienen.

Inzwischen war es dunkel geworden. Wir waren seit Tagen mit dem PKW unterwegs. Verstopfte, zerstörte und auch gesperrte Straßen und Ortschaften hatten uns aufgehalten. Die Landschaft war verschneit, Straßen zum Teil nicht oder nur schwer zu befahren.

RPW: Was hatte die Landschaft für einen Charakter? War sie öde, erhaben, weitläufig, lieblich? Konnte man sie mit irgendeiner Landschaft in Niedersachsen vergleichen, oder gab es ein spezifisch "östliches" Flair? War es flach? Dünn besiedelt?

HW: Außer Weitläufigkeit und viel Schnee nahmen wir wenig von der Landschaft wahr. Die Dörfer lagen meistens in großen Abständen voneinander.
Die Kälte – besonders nachts – ließ bei längeren Pausen hin und wieder die Benzinleitung einfrieren; diese mußte dann mühselig wieder aufgetaut werden.

RPW: Wie?

HW: Die einfachste Methode war, heißes möglichst kochendes Wasser vorsichtig auf die Benzinleitung des Motors zu gießen.
Flüchtlingstrecks verstopften die Straßen und machten oft ein Durchkommen unmöglich. Wegen der Gefahr durch feindliche Nachtflugzeuge mußten wir ohne Licht fahren, falls wir nachts überhaupt fahren konnten. Fahrzeuge der deutschen Wehrmacht – auch Panzer und Sturmgeschütze – waren überall unterwegs, zum Teil zu uns im Gegenverkehr oder mit uns in gleicher Richtung; beide hielten uns auf, zwangen uns oft zu stundenlangem Stillstand.

Nun waren wir nach tage- und nächtelanger Fahrt etwa 60 km südlich Königsberg. Wir mußten langsam fahren. Dunkelheit, Hindernisse und verschneite Straßen zwangen uns dazu. Ich saß auf dem Beifahrersitz und studierte im Schein einer Taschenlampe die Landkarte auf meinen Knien. Die Entfernung bis Königsberg abschätzend, fuhr ich mit dem Finger die Strecke entlang und entzifferte im schwachen Schein der Taschenlampe die Namen der noch zu durchfahrenden Orte. Da, dieser Name kam mir irgendwie bekannt vor: Tharau [Vladimirovo]! Ich war noch nie hier in Ostpreußen gewesen. Wieso kannte ich diesen Namen? Plötzlich fiel es mir ein: "Ännchen von Tharau"! Dieses alte deutsche Volkslied, gedichtet vor etwa 300 Jahren von Simon Dach, dem Poeten und Theologen aus Königsberg, zur Hochzeit der Pfarrerstochter aus Tharau. Hier mußte sie also gewohnt haben, die er so innig angedichtet hatte. Noch etwa 20 km waren es bis dort. In Anbetracht unserer mehr als mäßigen Geschwindigkeit durch Dunkelheit und Schnee würde das eine knappe Fahrstunde bedeuten. Aber vorher mußten wir noch den etwas größeren Ort Mühlhausen [Gvardeyskoye (Gvardejskoe)] passieren. Ich stierte angespannt durch die Windschutzscheibe auf die nur durch Mondschein und Schnee schwach aufgehellte Straße, um dem Fahrer neben mir – falls erforderlich – bei der Orientierung behilflich zu sein. Alle drei kämpften wir infolge der hinter uns liegenden Strapazen und der inzwischen nächtlichen Stunde mit unserer bedrohlichen Müdigkeit.

Da tauchte an der rechten Straßenseite, schwer zu erkennen, ein Ortsschild auf. Ich forderte meinen Fahrer auf, noch langsamer zu fahren; und in der schwachen Beleuchtung durch Schnee und Mond erkannten wir den Namen "Mühlhausen". Genau in diesem Augenblick ließ uns das Geknatter eines Maschinengewehres – wahrscheinlich aus der Richtung der ersten Häuser am Ortsrand – zusammenfahren. Mein Fahrer – geistesgegenwärtig und unfaßbar reaktionsschnell – bremste, stieß unter gleichzeitigem Einschlagen des Lenkrades zurück, wendete und fuhr mit erheblich gesteigerter Geschwindigkeit den soeben befahrenen Weg zurück. Wir saßen, gebückt und voll munter geworden, auf unseren Plätzen, wagten kaum uns umzusehen, hätten auch bei der Dunkelheit ohnehin nichts erkennen können.

RPW: Habt Ihr geredet, aufgeschrien, geflüstert, oder seid Ihr stumm geblieben?

HW: Wir waren furchtbar erschreckt, duckten uns und sagten bestimmt kein Wort. Ich glaube, erst nachdem wir dank der richtigen Reaktion unseres Fahrers ein beträchtliches Stück zurückgefahren waren, berieten wir über unsere Lage und was am besten zu tun sei.
Nur aus der Ferne hörten wir noch ein paar Feuerstöße nachdem wir angehalten hatten. Alle drei waren wir uns einig: nach dem Tempo der Schußfolge und dem leicht stotterndem Ablauf derselben konnte es sich nur um ein russisches Maxim-MG gehandelt haben.

RPW: Kommt das Stottern von schlechterer Qualität?

HW: Der Grund für die unregelmäßige Schußfolge des russischen Maxim-MGs ist mir nicht bekannt. Die Schußfolge war langsamer als die unserer MGs, die wohl wirkungsvoller waren, aber sehr viel Munition verschossen.
Verstört und ziemlich ratlos beschloß ich, daß wir vorsichtig und langsam in Richtung Preußisch Eylau zurückfuhren. Gegen Morgen, es war noch dunkel, trafen wir dort ein und stießen auf einzelne deutsche Truppenteile, die ebenfalls einen recht ratlosen Eindruck machten. Niemand hatte einen Durchblick; die Lage war verworren. Erst im Laufe des Tages zogen Verbände der Wehrmacht – auch mit einzelnen Panzern – an uns vorbei in nördliche Richtung, versehen mit unserer Information, daß wir in der letzten Nacht bei Mühlhausen offensichtlich auf russische Verbände gestoßen waren.

Wir verbrachten den restlichen Tag und die Nacht in einem Haus am südlichen Stadtrand Preußisch Eylaus, die Ankunft unseres Regiments erwartend.

RPW: War das ein einfaches Bauernhaus oder ein mehrstöckiger Betonklotz? Waren die Bewohner bereits geflohen?

HW: Preußisch Eylau war eine ostpreußische Kleinstadt ähnlich denen in Norddeutschland: kleinbürgerliche Häuser, in der Regel ein- bis zweistöckig und in weiträumiger Bebauung, denn Gelände war in Ostpreußen keine Mangelware. - Die Bevölkerung war nach meiner Schätzung wohl schon zu 80% geflüchtet.
Der nächste Tag und die nächste Nacht vergingen.

RPW: Wie verbringt man solche Zeit? Nichstun, Reden, Lesen, Kartenspielen, Rauchen…?

HW: Es herrschte große Unruhe, Ungewißheit und gespannte Erwartung; die Zeit wurde verbracht mit vielen Gesprächen, Suche nach Eßbarem und dessen Zubereitung. Bücher und innere Ruhe zum Lesen waren nicht vorhanden.
Wir bemerkten nur, daß inzwischen verstärkt Verbände der Wehrmacht den Ort passierten. Ich versuchte, nähere Einzelheiten über die militärische Lage in diesem Bereich in Erfahrung zu bringen, was in Anbetracht der verworrenen Situation äußerst schwierig war. Was konnte ich als Tatsache werten, was war mehr Vermutung oder nur Gerücht? Soviel schien jedenfalls festzustehen: Der Stoßkeil der Roten Armee war südlich von Königsberg in Richtung Frisches Haff erfolgt; ob dieses schon erreicht war, konnte ich nicht in Erfahrung bringen. Gerüchte besagten, Königsberg selbst sei noch in der Hand deutscher Verbände.

RPW: Von wem hört man solche Gerüchte? Radio? Personen?

HW: Gerüchte hörte man von anderen Soldaten und auch von den wenigen verbliebenen Bewohnern. Radio konnten wir nicht hören, da die Stromversorgung schon längst nicht mehr funktionierte und wir keine Batteriegeräte hatten.
Am späten Nachmittag bekamen wir Kontakt mit den ersten Einheiten unseres Regiments, das im Verbund mit den anderen Regimentern der Division nach und nach im Raum Preußisch Eylau eintraf. Ich konnte mich beim Regimentskommandeur melden und einen Lagebericht, soweit mir möglich, abgeben.

RPW: Mündlich? Wie wurde man als Leutnant behandelt von einem Regimentskommandeur?

HW: Der Bericht wurde mündlich gegeben. Das Verhältnis zum Regimentskommandeur war dienstlich-korrekt entsprechend dem Dienstgradsunterschied aber doch auch kameradschaftlich.
Mein Auftrag war erfüllt, und ich hatte mich wieder dem Regiment einzuordnen. Inzwischen schienen wieder eine gewisse Übersicht und vor allem auch einigermaßen funktionierende Befehlsstrukturen in unseren Verbänden einzukehren, vor allen Dingen aus dem Bereich des Armeekorps. Jedenfalls mußten wir uns noch im Laufe der Nacht in Richtung auf ein Gelände südlich Kreuzburg [Slavskoe] in Marsch setzen. Jedenfalls mußten wir uns noch im Laufe der Nacht in Richtung auf ein Gelände südlich Kreuzburg in Marsch setzen.

RPW: Wer wart "Ihr"? Eine Truppe, ein Korps, ein Regiment? Wieviele Personen?

HW: Das war unser Regiment. Ich schätze seine damalige Stärke auf etwa 800 Soldaten; normalerweise war die Sollstärke eines Infanterie-Regiments etwa doppelt so groß. Aber die Ereignisse des Krieges der verflossenen Jahre und die vielen Kampfeinsätze der vergangenen Monate für unser Regiment (Gefallene und Verwundete) hatten große Verluste gebracht, die nicht wieder aufgefüllt werden konnten. Offensichtlich sollte eine einigermaßen geschlossene Verteidigungslinie südlich des russischen Keils aufgebaut werden. Gemunkelt wurde auch, daß ein Versuch unternommen werden sollte, den Keil zu durchbrechen, um einen Weg nach Königsberg zu öffnen.
Im Laufe des späten Tages – es fing gerade an zu dunkeln – trafen wir in unserem Bereitstellungsraum ein und richteten uns bei der eisigen Kälte der Nacht in verlassenen Häusern und in verschneiten Senken, die von Buschwerk und wenigen Bäumen bestanden waren, so gut es ging ein.

RPW: Waren das Bauernhäuser? In gutem Zustand oder zerfallen? Wie waren die Klos? "Einrichten" klingt etwas trocken. Baut man sich ein Zelt, oder haut man sich mit einem Schlafsack in den Schnee? Verrichtet man die Notdurft hinter den Büschen?

HW: Das waren meistens Bauernhäuser oder Häuser von Landarbeitern im üblichen Zustand, noch nicht von Kriegsereignissen betroffen und in der Regel mit "Plumps-Klos". Zelte und Schlafsäcke gehörten nicht zur Ausrüstung, wären auch gar nicht von den Soldaten zu transportieren gewesen. Mit Hilfe von schnell auftreibbaren Brettern, Strohballen, Buschwerk u.ä. richteten wir uns in notdürftig mit Spaten und Hacken ausgehobenen Erdgruben ein. Wichtig war immer die Deckung gegen Beschuß zur Feindseite. Mit dem Verrichten der Notdurft mußte jeder einzelne selbst zurechtkommen, selbstverständlich in der Regel im freien Gelände.
Wachen wurden eingeteilt, die Soldaten zu Ruhe und konzentrierter Wachsamkeit ermahnt. Alle waren verfroren und total übermüdet. Die Versorgung mit Verpflegung und auch die Bereitstellung von Munitionsreserven machten erhebliche Schwierigkeiten. Die Nacht verging langsam unter ständigem Kampf mit Müdigkeit, Kälte und Hunger.

RPW: Was gab’s eigentlich als Essen?

HW: In dieser hier erlebten Ausnahmesituation (keine festen länger gehaltenen Stellungen, kein organisierter Nachschub von Verpflegung für unsere Feldküchen) gab es keine geregelte Essensversorgung. Wir mußten uns im wesentlichen selbst helfen und versorgen.
Am nächsten Morgen ganz in der Frühe – es war noch dunkel – hörten wir aus der Ferne vor uns Motorgeräusche; alle waren sofort hellwach. Das gleichmäßige etwas monotone Rollen – noch aus weiter Ferne – verriet uns sofort, daß es sich um Panzer handeln mußte. Ja, dieses ganz besondere Geräusch rollender Panzer kannten wir sehr genau: das konnten nur russische T 34 sein.

RPW: Wie fühltest Du Dich als Du das hörtest?

HW: Schwer erinnerbar; ich kann es nicht sagen.
Leise wurden Befehle durchgerufen und Maschinengewehre in Bereitstellung gebracht. Plötzlich setzte Artilleriefeuer ein, genau auf unsere Bereitstellungen, schnell suchten wir alle Deckung.

RPW: Wo? Wie?

HW: Deckung boten - soweit vorhanden und möglich - die oben beschriebenen Erdgruben oder vorhandene Mauern, Gebäudeteile und Gräben oder Vertiefungen.
Der Beschuß der russischen Artillerie hielt etwa eine knappe Stunde an, bis der Tag dämmerte. Wir ahnten was uns bevorstand. Was wir bisher erlebten war mit Sicherheit die Vorbereitung eines Angriffs auf unsere Stellungen gewesen. Im Schutze des Artilleriefeuers hatten sich die russischen Panzer und wahrscheinlich auch Infanteristen unseren Stellungen genähert. Nun sahen wir auch im Licht des angebrochenen Tages zahlreiche T 34 – Panzer noch in ziemlicher Ferne auf uns zurollen.

Die ersten Granaten unserer Panzer-Abwehr-Kanonen wurden abgeschossen und schlugen in der Nähe der russischen Panzer ein.

RPW: Von wem? Auch von Dir? Oder gibt es besonders ausgebildete Granatwerfer? Braucht man Technik dafür? Wo standen diese Kanonen?

HW: Panzer-Abwehr-Kanonen (PAK), die von dafür ausgebildeten Soldaten bedient wurden, sind speziell für den Beschuß von Panzern eingesetzt und schießen mit Panzergranaten (keine Granaten mit Sprengköpfen, sondern mit hartem Stahlkern zur Durchdringung der Panzerung) in direkter gerader Flugbahn (ähnlich den Gewehrgeschossen); darum müssen sie auch in der vordersten Kampflinie postiert sein.

Die russischen Panzer erwiderten sofort das Feuer mit ihren Kanonen auf unsere Stellungen.

RPW: Wie wurden diese Kanonen transportiert?

HW: Jede PAK-Kanone wurde mit dem Ende des rückwärtigen Sporns an eine Anhängevorrichtung eines speziellen Motorfahrzeuges (ähnlich einem Geländewagen) angekuppelt und gezogen.
Ein Höllenlärm war losgebrochen. Langsam arbeiteten sich die russischen Panzer weiter vor. Da sahen wir hinter den Panzern – in ihrem Schutz – gebückt laufende russische Infanteristen, die mit Gewehren und Maschinenpistolen ziemlich wahllos in unsere Richtung feuerten. Nun wurde auf unserer Seite das Kommando zum Gegenfeuer durchgerufen. Die ersten MG-Salven schlugen den Russen entgegen. Jetzt verstärkten die Panzer ihr Feuer auf uns, hielten aber plötzlich in ungefähr 300 bis 400 m Entfernung unter Ausnutzung von Geländevertiefungen an. Wir konzentrierten unser Gewehr- und MG-Feuer auf die russischen Soldaten hinter den Panzern, sahen auch Erfolge, denn einige der Soldaten blieben liegen, anscheinend getroffen oder um in besserer Deckung zu bleiben. Auch wir waren in mißlicher Lage, denn wir waren relativ ungeschützt in dem verschneiten Gelände, da wir uns aus Zeitmangel und wegen des mit Schnee bedeckten gefrorenen Bodens noch nicht eingegraben hatten; kein Panzerdeckungsloch war ausgehoben, jeder mußte sehen wo er im Gelände eine Deckung fand.

RPW: Was ist ein Panzerdeckungsloch und wer hebt es wie aus?

HW: Für uns Infanteristen waren feindliche Panzer sehr gefährlich. Wenn man ihnen durch Flucht entkommen wollte, lief man Gefahr, von dem MG im Turm des Panzers niedergemäht zu werden, denn die Panzerbesatzung kann durch schmale Sehschlitze das gesamte Gelände übersehen. Die größte Sicherheit bot daher eine ausgehobene schmale rechteckige Grube, in der meistens zwei Soldaten Platz hatten und die eine gewisse Ähnlichkeit mit einem frisch ausgehobenen Grab hatte. Man mußte sich in diesem "Panzerdeckungsloch" selbstverständlich niederkauern, so daß sich der Kopf unter dem Bodenniveau befand. In diesem Panzerdeckungsloch war man vor der beschränkten Sicht der Panzerbesatzung durch die Sehschlitze und vor allen Dingen gegen den Beschuß relativ sicher. Man ließ die feindlichen Panzer einfach vorbeifahren.
Besonders die mit Sprenggranaten schießenden russischen Panzer fügten uns erhebliche Verluste zu.

RPW: "Verluste?" Material, Personen? Hast Du gesehen, wie jemand verwundet wurde oder starb? Waren Kameraden oder nahe Freunde darunter? Wie weit entfernt warst Du von Deinen Kameraden? Standet Ihr direkt nebeneinader, oder weit versprengt? In Rufweite…? Wie fühlt man sich, wenn man solche "Verluste" sieht? Wie reagieren Getroffene? Fallen sie meist nur um, oder gibt es welche, die schreien, gestikulieren, um Hilfe rufen? Fühltest Du Dich eher in einer dramatischen, chaotischen oder unwirklichen Szene?

HW: Bei Kampfhandlungen - vor allem im Bewegungskrieg und weniger häufig im Stellungskrieg - erlebte ich oft, daß Kameraden in meiner unmitelbaren Nachbarschaft wenige Schritte von mir entfernt verwundet oder getötet wurden. Hier in dieser Lage hatten wir starke Verluste durch Sprenggranaten. Soweit ich mich erinnere, konnte ich im Augenblick des starken Beschusses wenig oder vielleicht auch gar keinen Anteil an meinen Kameraden nehmen, da ich auf mich selbst achten mußte. Von Granatsplittern zum Teil schwer Verwundete lagen im Gelände und riefen um Hilfe. Aber diese konnten wir ihnen erst nach dem russischen Angriff und Feuerüberfall zukommen lassen. Natürlich waren auch mir persönlich bekannte Soldaten darunter. Die ganze Szenerie, die sich uns hier darbot, war zwar auch für uns nicht alltäglich, aber in ähnlicher Form doch schon wiederholt erlebt, also keineswegs unwirklich.
Die Lage wurde für uns bedrohlich, obwohl der feindliche Angriff offensichlich ins Stocken geriet. Es war ein Stillstand eingetreten, begleitet von Gewehrfeuer und gelegentlichen Abschüssen der auf Distanz verharrenden Panzer und vereinzelten Abschüssen unserer Panzer-Abwehrkanonen. Einige Stunden vergingen so, während der wir kaum wagten uns vom Fleck zu bewegen.

RPW: Spricht man noch, in dieser Situation, oder bleibt man still? Bleibt man auch als Verwundeter dann stundenlang irgenwo liegen?

HW: Selbstverständlich sprachen wir miteinander und berieten die Lage. Auch bemühten wir uns - unter Ausnutzung von Deckungen und Schußpausen Verwundete zu bergen und zu versorgen.
Dann bemerkten wir Bewegung beim Gegner. Einzelne Panzer wendeten offensichtlich vorsichtig im Schutz ihrer Deckung und im Schutz des erheblich verstärkten Beschusses unserer Stellungen durch die übrigen Panzer. Auch die russischen Infanteristen bewegten sich vorsichtig zurück. Wir versuchten mit PAK und MG’s diese Absetzbewegungen zu stören. Rückwärts fahrend und auf uns feuernd zogen sich zum Schluß auch die letzten Panzer zurück.

Der Nachmittag verging bei uns mit Versorgung und Abtransport der Verwundeten. Auch einige Gefallene mußten zurückgebracht werden.

RPW: Wieviele? Zwei oder drei, fünfzig, ein paar hundert? Kanntest Du welche von denen? Wieviele Leute trugen einen Verwundeten oder Gefallenen, oder ging man bereits mit Bahren auf die Suche? Gab es einen Arzt? Wie weit war es zum nächsten Lazarett?

HW: Die Anzahl der Gefallenen konnte ich nur begrenzt überschauen. Daran kann ich mich nicht mehr genau entsinnen; es waren in meinem Bereich gewiß nur wenige. Tragen zum Fortschaffen hatten wir nicht. Den Gefallenen wurde die untere Hälfte der dünnen metallenen ovalen "Erkennungsmarke" abgebrochen, die jeder Soldat an einer Schnur um den Hals auf der Brust trug und die eingesammelten Marken zum Stab zurückgeschafft. Von hier wurden die Angehörigen benachrichtigt und andere Formalitäten erledigt. Allerdings in dieser unübersichtlichen Situation wurde mit solchen Pflichten "großzügig" verfahren; wir hatten im Moment andere, größere Sorgen. Die Gefallenen wurden eingesammelt und meistens im Bewegungskrieg (wie hier) schnell in ausgehobenen Gräbern beigesetzt. Oft mußten sie auch liegenbleiben, da der gefrorene Boden, die ständige Gefechtstätigkeit oder schneller Rückzug wegen starker russischer Angriffe eine Beisetzung verhinderten. Wir hatten zwar einen Regimentsarzt - aber ich kann mich nicht entsinnen, wo er gerade in dieser schrecklichen und unübersichtlichen Lage war. Lazarette gab es im Kampfgebiet nicht, aber sogenannte Hauptverbandsplätze, die irgendwo im rückwärtigen Gebiet - meistens 10-20km entfernt in einer Schule oder einem anderen Gebäude - provisorisch untergebracht waren und in der Regel mit einem oder mehreren Ärzten und Sanitätern besetzt waren.

Die Russen hatten wohl ihre Verwundeten mitgenommen, nur wenige tote russische Soldaten lagen in der Ferne im Schnee.

RPW: Und blieben liegen? Was wäre mit zurückgebliebenen Verwundeten passiert?

HW: Gefallene russische Soldaten blieben liegen; verwundete Russen waren nicht vorhanden. Hätte es welche gegeben, blieb es unseren Soldaten überlassen, was sie je nach Gefechtslage und Schwere der Verwundung mit ihnen machten (versorgen wie eigene Verwundete oder liegen lassen).
Jetzt wurde bei uns die Lage sondiert. Die Abwehrstellung wurde – soweit überhaupt möglich – verbessert, Munition für Gewehre und Maschinengewehre ausgegeben und unsere Versorgungsfahrzeuge in etwas zurückgezogene Lage, möglichst nicht sichtbar, verlegt.

Gleich nach Einbruch der Dunkelheit trafen die Kompanieführer und die Offiziere des Stabes auf Befehl des Regimentskommandeurs im Regimentsgefechtsstand im Schloß Kilgis [Zaretschje] zusammen.

RPW: War es dort nobler als in einer verschneiten Senke? Gab es etwas besseres zu essen? Alkohol? War das Schloss verfallen oder in gutem Zustand? Wie war die Stimmung? Wie lange dauerte so ein Zusammentreffen? Wurde man korrekt behandelt vom Regimentskommandeur?

HW: Das Schloß Kilgis ähnelte mehr einer vornehmen Gutsverwaltung und war von Besitzern, Personal, Landarbeitern usw. bereits verlassen. Es war sehr gut erhalten, nur elektrischen Strom gab es nicht mehr. Es war keineswegs normal, daß der Regimentsgefechtsstand so nobel untergebracht war - es war ein Zufall; oft war es auch ein Erdbunker o.ä. Unsere Stimmung war schlecht, die Hoffnung auf ein Entkommen aus dieser Lage sank merklich. Unser Regimentskommandeur war ein ziemlich furchtloser korrekter Soldat, der aber unsere Situation völlig realistisch einschätzte. Ich erinnere mich nicht mehr, wie lange wir berieten.
Wir erfuhren sogleich, daß ein Befehl des Divisionskommandeurs vorlag, diese augenblickliche Stellung im Laufe der Nacht noch zu räumen, um etwa 15 km weiter südlich in Anlehnung links und rechts an andere Regimenter der Division eine neue günstigere Verteidigungsstellung schnellstens auszubauen. Die Absetzbewegung sollte noch bei Dunkelheit ziemlich lautlos und vom Russen unbemerkt beginnen und bis zum Anbruch der Helligkeit weitgehend abgeschlossen sein. Man rechnete mit einer Wiederholung des russischen Angriffs, allerdings wohl wahrscheinlich nicht gleich am nächsten Tage. Um eine Sicherung einzubauen, sollte eine zahlenmäßig kleine Kampfgruppe von etwa 40 Mann bereits etwa 5 bis 6 km südlich von hier in dem verschneiten Feldgelände vor dem Dorf Moritten [Oktjabrskoe] Stellung beziehen bis kurz vor Beginn der Dunkelheit des nächsten Tages. Wir wußten aus Erfahrung, daß die Russen mit Vorliebe ihren Angriffsweg so legten, daß möglichst schnell Dörfer erobert und besetzt wurden. Offensichtlich steigerte das erheblich das Erfolgserlebnis der Soldaten und verschaffte ihnen die Möglichkeit, auch noch Wertvolles aus den Häusern mitzunehmen, also zu plündern. Beides – Erfolgserlebnis und Plündern – trugen zur Kampfmoral der Truppe bei. Darum rechneten wir, daß die Stoßrichtung des nächsten Angriffs zuerst auf Moritten zielen würde.

RPW: War das Plündern nur bei Russen beliebt oder (zuvor) auch bei Deutschen?

HW: Da die Kriegsereignisse im Osten schon seit etwa Ende 1942 sich in der Weise gewandelt hatten, daß die deutsche Wehrmacht im wesentlichen einen Verteidigungskrieg führte und auf dem Rückzug war, wurde unser Rückzugsweg meistens durch den Angreifer bestimmt. Erfolgserlebnisse gab es kaum, und Plünderungen waren schon aus Mangel an "Plünderungsgut" gewiß selten.
Der genaue Auftrag für die kleine Kampfgruppe lautete, eventuell doch schon am nächsten Tage vorrückende russische Verbände in Kampfhandlungen zu verwickeln und ähnlich den Erfahrungen des heutigen Tages nur zum Stillstand zu zwingen, um unserem Regiment genügend Zeit zum Ausbau einer sicheren Verteidigungsstellung zu gewährleisten.

RPW: Ist das eine klassische Taktik? Kann man dann mit hohen "Verlusten" bei so einer Kampfguppe "rechnen"?

HW: Ich weiß nicht, ob das eine "klassische" Taktik ist. Für mich war es das erstemal (und das letztemal!), eine solche Unternehmung mitgemacht zu haben.
Beim Beginn der Dunkelheit sollte sich die Kampfgruppe vorsichtig und langsam auf die neue Verteidigungsstellung des Regiments zurückziehen. Sollte aber kein Angriff der Russen erfolgen – womit man eigentlich rechnete – sollte genau so verfahren werden, nämlich bei Einbruch der Dunklheit Rückzug in die neue Stellung. Der Regimentskommandeur schaute auf mich und sagte: "Leutnant Wille, Sie werden die Führung dieser Kampfgruppe übernehmen!"

RPW: Wurde so eine Entscheidung einzig und allein vom Regimentskommandeur getroffen? Wie alt war er? Hatte er besondere Charaktereigenschaften?

HW: Der Regimentskommandeur hatte diese Entscheidung meines Wissens allein getroffen. Sein Alter war etwa Mitte dreißig.
Da hatte es mich also schon wieder getroffen.

RPW: Früher schon einmal?

HW: Ich denke hierbei an den vorangegangenen Auftrag für mich, den ich Dir ja schilderte, als Vorkommando von Nordpolen Richtung Königsberg voranzufahren.
Ich war der jüngste aller Offiziere im Regiment, gehörte auch nicht zu den Kompanieführern und hatte bisher im wesentlichen Aufgaben im Regimentsstab zu erfüllen; vielleicht war das der Grund. Aus vier Schützenkompanien mußten je ein MG-Schütze mit einem LMG und neun Mann je mit Gewehr bewaffnet und dazugehöriger Munition abgestellt werden. Ort und Zeitpunkt des Treffens für alle wurden festgelegt.

RPW: Was ist ein LMG und von wem wurden Ort Und Zeitpunkt festgelegt?

HW: Ein LMG ist ein "Leichtes Maschinengewehr" im Gegensatz zu einem SMG ("Schweres MG"). Das LMG kann ein einzelner Schütze tragen und beim Schießen allein bedienen, denn es hat als Stütze nur ein ausklappbares kurzes Zweibein unter dem Lauf zum Aufsetzen auf den Boden; das SMG dagegen wird auf einer schweren Lafette (beweglicher Untersatz) aufgebaut und ist natürlich viel schwerer.

Danach wurden noch Einzelheiten und an Hand einer Karte der genaue Rückzugsweg festgelegt.

RPW: Von wem?

HW: Ich glaube, das hatten wir bei der Lagebesprechung gemeinsam festgelegt.
Pünktlich trafen die abkommandierten Soldaten an dem festgelegten Ort – einem kleinen Bauernanwesen – ein.

RPW: Ein verlassenes Anwesen?

HW: Alle Häuser in dieser Gegend waren zu diesem Zeitpunkt von den Bewohnern verlassen.
Die Leute wurden von mir begrüßt und in unseren Auftrag eingeweiht. Große Begeisterung glaubte ich nicht festzustellen, die Stimmung war gedrückt. Müdigkeit, Kälte und mangelnde Verpflegung machte allen zu schaffen. Zu vorgerückter Zeit – es war in den frühen Morgenstunden wohl gegen 3 Uhr marschierten wir los über verschneite Straßen und Feldwege in Richtung Moritten. Unterwegs hatten wir einige kurze Aufenthalte bei Häusern oder Bauerngehöften und machten eine längere Pause in der Nähe des kleinen Dorfes Porschkeim [Sidorovo]. Es war nicht so sehr das Bedürfnis auszuruhen als vielmehr der Versuch, in den verlassenen Häusern noch etwas Eßbares zu finden. Nirgendwo trafen wir auf Bewohner; diese hatten gottseidank rechtzeitig die Flucht ergriffen. Meine Leute öffneten Türen – zum Teil mit Gewalt – um vor allen Dingen beim Schein von Taschenlampen oder Kerzen in Kellern und Küchen zu suchen, zum Glück auch nicht ohne Erfolg.

RPW: Wie zivilisiert war es in diesen Häusern? Waren es Steinhäuser? Mehrstöckig? Gab es fliessendes Wasser? Plumpsklos mit oder ohne Gestank? Wie war die Einrichtung? Hatten die Flüchtlinge viel mitgenommen oder fast alles zurückgelassen? Glaubte noch jemand an eine eventuelle Wiederkehr, oder wußte jeder, daß dies so gut wie ausgeschlossen war?

HW: Die ostpreußischen dörflichen Häuser unterschieden sich nach meiner Erinnerung nicht von denen unserer norddeutschen Landschaft: es waren bäuerliche Anwesen aus Stein gebaut. Soviel ich mich erinnere, waren sie durchweg noch komplett eingerichtet. Die geflüchteten Bewohner hatten wohl kaum mehr als Kleidung und Verpflegung und wenig bewegliche Habe und manchmal auch lebendes Vieh mit auf die Flucht genommen. Ich weiß nicht, ob sie an eine eventuelle spätere Rückkehr glaubten, denn wir hatten kaum Kontakt mit Flüchtlingen gehabt als kämpfende Truppe.
Schon seit Tagen hatten wir kaum noch Verpflegung erhalten; wir mußten uns selbst aus dem Lande versorgen. Ich bekam von einem meiner Soldaten eine überdicke, trockene Scheibe altes schon kräftig fast schimmelig beschlagenes Brot ab. Miteinander tauchten wir unser Brot in ein großes Einmachglas, das mit Honig gefüllt war. Einige hatten Einmachgläser mit Gänsefleisch oder Rindsrouladen gefunden und fielen hungrig darüber her.

RPW: Sitzt man dann noch zusammen an einem Tisch, oder steht man, oder hockt jeder für sich auf einem Stuhl oder auf dem Boden? Wird viel geraucht? Worüber spricht man? Über den Auftrag, über das gefundene Essen, die Heimat, Witze?

HW: Das waren sehr verworrene und unruhige Situationen; wir setzten uns dahin, wo wir gerade Platz fanden und machten uns über die gefundenen Eßvorräte her. Selbstverständlich wurde geraucht - sofern noch Zigaretten vorhanden. Ich weiß nicht mehr, worüber wir dabei sprachen, aber wahrscheinlich über unsere Lage, unseren Auftrag und über Vermutungen wie alles ausgehen würde.
Nachdem diese Erlebnisse unsere Stimmung wieder etwas gehoben hatten, setzten wir unseren Marsch fort und trafen recht früh noch bei Dunkelheit bei dem Dorf Moritten ein.
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Der hin und wieder aus den Wolken hervorsehende Mond, dessen Licht noch durch den Schnee reflektiert wurde, ermöglichte uns trotz der nächtlichen Stunde noch eine schwache Sicht. Wir konnten die Häuser des Dorfes erkennen und gewannen auch einen Eindruck von der Landschaft. Von der Nordseite her, der gleichen Richtung aus der wir vielleicht den Feind erwarteten, hatten wir Moritten erreicht. Aus unserer Lagebesprechung beim Stab und dem Studium einer Karte wußte ich, daß etwa ein Kilometer südlich des Dorfes ein größeres Waldgebiet lag, das sich etwa sechs Kilometer in südliche Richtung erstreckte. Moritten lag also in einer welligen Feld- und Weidelandschaft, die von Feldwegen — teilweise mit seitlichen Busch- und Heckenrändern — durchzogen war, die wohl alle zum Dorf führten.

Wir waren also ungefähr 40 Mann, zusammengewürfelt aus vier verschiedenen Kompanien. Unsere Verteidigungsstellung mußten wir in einem Bogen nördlich vor Moritten einrichten, die linke und die rechte Flanke blieben offen. Ich hatte mir ausgerechnet, daß diese Stellung etwa 250 Meter vor dem Dorf in dem welligen Gelände ungefähr 300 bis 350 Meter Breite einnehmen würde. Ich wollte immer jeweils zwei Soldaten zusammenlegen. Zwischen den einzelnen Zweiergruppen konnten je nach Gegebenheiten der Sicht und der Deckung im Gelände 15 bis 20 Meter Abstand sein.

Bevor wir an die praktische Durchführung gingen, besprach ich mit meinen Leuten noch wichtige Einzelheiten. Jede Zweiergruppe sollte sich, so gut es das Gelände erlaubte, eine Deckung suchen oder in den Schnee buddeln und zur Feindseite gut tarnen. Eingraben war wegen des gefrorenen Bodens, fehlenden Gerätes und der knappen Zeit nicht möglich. Niemand sollte im Falle eines Angriffs nervös werden und frühzeitig schießen; erst auf mein Kommando werde das Feuer eröffnet. Bei Einbruch der Dunkelheit würde ich dann den Befehl zum Rückzug geben. Als Sammelpunkt legten wir ein Haus am Rande des Ortes bei einem einmündenden Feldweg fest.

Inzwischen war die Dunkelheit schon etwas gewichen, es war heller geworden und die Sicht besser. Ich machte mich mit meinen Leuten auf den Weg, und wir besetzten wie geplant unsere Stellungen. An der westlichen Seite fingen wir an. Wir waren alle durchgefroren und müde. Nach kurzer Zeit kam ich mit den letzten beiden an der Ostseite unserer Stellung an und postierte sie dort. Die erste wichtige Arbeit war geschafft. Ich hatte die Absicht, mich etwa in der Mitte unserer Verteidigungslinie in einer guten Deckung zu postieren und machte mich auf den Weg in diese Richtung. Es war inzwischen hell geworden. Als ich ungefähr gut 100m gegangen war, meinen geplanten Platz aber noch nicht erreicht hatte, hörte ich plötzlich aus weiter Ferne – nämlich aus nördlicher Richtung – das wohlbekannte Motorengeräusch russischer Panzer, die aber noch ein sehr großes Stück entfernt sein mußten. Schnell rief ich meinen Leuten, die das auch gehört haben mußten, nach beiden Seiten zu, ruhig in Deckung zu bleiben und abzuwarten bis ich einen Befehl zum Schießen gäbe. Ich sah mich nach einer Deckung um, die ich auch in einer tiefen verschneiten Ackerfurche fand. Hier – zwar nicht am vorgesehenen Platz in der Mitte unserer Verteidigungslinie – wartete ich ab. Eine verhältnismäßig lange Zeit verging, jedenfalls kam es mir sehr lange vor. Das dumpfe Grollen der Panzermotoren wurde lauter, und in der Ferne sah ich – noch recht undeutlich – die ersten Panzer in unsere Richtung rollen. Außer den Motorgeräuschen war es still, kein Schuß war bisher gefallen. Ich sah nach rechts und links, um Blickverbindung zu meinen Leuten zu halten. Ein eisiger Schreck durchfuhr mich. Einige meiner Soldaten krochen vorsichtig, andere liefen schon gebückt in rückwärtige Richtung auf das Dorf zu. Laut schrie ich hinter ihnen her; entweder hörten sie mich nicht oder wollten mich gar nicht hören. Ich war völlig ratlos und durcheinander, vor allem als ich sah, daß immer mehr ihnen folgten, bis ich offensichtlich noch allein in meiner Vertiefung lag. Die Angst und die darauf erfolgte Flucht einzelner Soldaten hatte in dieser gewiß recht hoffnungslosen Situation eine nicht aufzuhaltende ansteckende Wirkung. Was sollte ich tun? Ich war Offizier und hatte einen klaren Befehl. Auch flüchten und mich als Feigling zurückmelden?

Verzweifelt blieb ich liegen. Ich hatte das Gefühl, daß ich in dieser Situation keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Die russischen Panzer kamen näher und fuhren einige hundert Meter links von mir vorbei in Richtung Moritten. Ich sah eine kleine Gruppe russischer Soldaten vorsichtig hinter einem der Panzer hergehen. Wahrscheinlich verlor ich jetzt Nerven und Verstand, jedenfalls handelte ich mechanisch wie in Trance. Ich entsicherte meine Maschinenpistole, und in der Vertiefung liegend mit aufgestützten Ellenbogen schoß ich einen kurzen Feuerstoß in Richtung der russischen Soldaten. Dann nahm ich volle Deckung und hörte erst mal nichts. Plötzlich ein MG–Feuerstoß, der weit an mir vorbeiging. Die Russen hatten offensichtlich nur die ganz grobe Richtung, aus der meine Schüsse gekommen waren, ausgemacht. Außerdem wird das Feuer einer Maschinenpistole auf diese Entfernung nicht gerade laut gewesen sein und kann schon gar keine Wirkung erzielt haben. Ich hatte völlig unsinnig gehandelt. Noch ein weiterer MG–Feuerstoß ging in gleicher Richtung weit an mir vorbei. Nach einer kurzen Pause hörte ich wieder das Rollen der Panzer. Ich blieb in voller Deckung liegen.

Wie lange ich so gelegen habe, weiß ich nicht. Jedenfalls verstummten die Panzer, sie hatten wohl das Dorf erreicht. Nach einer ganzen Zeit hörte ich Stimmen und viele Geräusche aus der Richtung des Ortes. Die russischen Soldaten durchsuchten wohl die Häuser und ich lag nur gut 200 m von ihnen entfernt in einer Ackerfurche im Schnee. Wann würden nachfolgende russische Panzer oder Soldaten mich hier entdecken? Mir wurde es langsam ungemütlich und unheimlich. Irgendwie mußte ich hier noch beizeiten fortkommen, wenn ich den Russen nicht in die Hände fallen wollte.

Vorsichtig sah ich über die Böschung meiner Furche. Ungefähr 150 m links von mir sah ich eine Busch– und Baumreihe neben einem Weg, der in das Dorf führte. Diesen natürlichen Sichtschutz müßte ich erst einmal erreichen und dann weitersehen. Ich rechnete mir aus, daß ich diese Entfernung in etwa 5 bis 6 Sätzen überwinden könnte. Nachdem ich meine Maschinenpistole überprüft und in die rechte Hand genommen hatte, setzte ich zum ersten Sprung an und schaffte in gebücktem Laufen ein ganzes Stück, warf mich dann wieder hin in den Schnee und beobachtete das Gelände. Bis hierhin war es gut gegangen. Da ich natürlich den kürzesten Weg zu dem Buschwerk nehmen wollte, kam ich notgedrungen auch dem Dorf näher. Nach einer ganz kurzen Pause setzte ich zum zweiten Sprung an, kam auch gut vorwärts, als plötzlich Gewehrschüsse in meine Richtung gingen. Ich hörte das Zischen der vorbeifliegenden Geschosse. Es war unmöglich, mich jetzt hinzuwerfen, denn dann böte ich ein sicheres Ziel. Ich lief – nicht mehr gebückt – so schnell es mir möglich war, schlug Haken und versuchte, den Heckenweg zu erreichen. Plötzlich ein furchtbarer Schlag gegen meinen Bauch – wie mit einem Riesenhammer.

Ich weiß nicht wie mir weiter geschah, im Schnee liegend kam ich zu mir. Meine Beine konnte ich nicht mehr bewegen. Ich sah an mir hinunter; meine Tarnjacke war in der Bauchgegend total zerrissen und alles rot von Blut. Kein Schuß fiel mehr, kein Russe ließ sich sehen. Sie blieben am Dorfrand und gaben sich wohl damit zufrieden, mich erledigt zu haben – eine Annahme zu der sie gewiß allen Grund hatten, denn das Geschoß, das mich getroffen hatte war – wie ich erst später erfuhr – ein Explosivgeschoß. Das sind Geschosse mit Explosivfüllung und Aufschlagzünder, die also beim Auftreffen explodieren und eine furchtbare Wunde reißen.

Mit der Hand und dem Unterarm versuchte ich die Wunde zuzupressen. Das Blut lief mir über die Hand in den Schnee. Was sollte ich machen? Angst überfiel mich. Wenn russische Soldaten mich hier finden und sehen, daß ich noch lebe, würde im günstigsten Falle noch eine Kugel für mich geopfert. Dann dachte ich wieder: Es ist alles egal, bleib liegen, zu retten bist du doch nicht mehr.

Ich erinnere mich überhaupt nicht, ob ich Schmerzen empfunden hatte. Jedenfalls weiß ich, daß irgendwann der unbändige Entschluß da war: Hier mußt du weg. Ich preßte wieder die linke Hand und den Unterarm noch fester gegen die große Wunde am Bauch, drehte mich vorsichtig auf die Seite und robbte mit dem rechten Arm langsam durch den Schnee in Richtung des Weges. Im Schnee hinterließ ich hinter mir eine rote Blutspur. Ich weiß nicht, wie lange es dauerte bis ich Hecke und Weg erreichte – unendlich lang kam mir der Weg vor, obwohl es wohl kaum 80 m gewesen sein können. Doch endlich erreichte ich mein Ziel. Von der furchtbaren Anstrengung erschöpft, blieb ich zusammengekauert in der Hecke liegen. Ich hörte wieder den Lärm der russischen Soldaten in dem Dorf Moritten. Sie plünderten und hatten vielleicht auch Schnaps gefunden. Jedenfalls dachten sie im Augenblick gewiß nicht an Krieg – zu meiner Rettung. Das sollte sich im weiteren Verlauf zu meinen Gunsten noch deutlicher erweisen.

Mir ging es sehr schlecht. Ich war weit in das schützende Gebüsch seitlich des Weges gekrochen und glaubte, daß ich hier wohl bald sterben würde. Einen Plan hatte ich. Sollten russische Soldaten vorbeikommen, wollte ich den Kopf auf die Seite legen und einen Toten spielen. Ich wußte, daß mit verwundeten Gegnern meistens nicht viel Federlesens gemacht wurde.

Wie lange hatte ich so gelegen? Ich weiß es nicht. Plötzlich sah ich, wie sich eine gebückte Gestalt an die Hecke gedrückt vorsichtig in Richtung des Dorfes bewegte; gleich mußte sie in meiner Nähe sein. Ich spielte also den Toten, blinzelte aber vorsichtig und sah zu meiner Überraschung, daß es sich um einen deutschen Soldaten handelte. Als er fast neben mir war, machte ich mich durch leises Rufen bemerkbar. Erschrocken kam er zu mir und erkannte mich als deutschen Soldaten. Er sah gewiß, in welchem Zustand ich mich befand. Ich teilte ihm kurz mit, was sich hier ereignet hatte und erfuhr, daß er als Oberleutnant einer Artillerie–Einheit bei einem russischen Angriff hinter die russischen Linien geraten war, sich dann nachts versteckt hatte und nun dem Gefechtslärm und den Panzergeräuschen nachgehend und schleichend durch die Kampflinien wieder zurückfinden wollte. Ich informierte ihn über die Lage hier, besonders in Moritten. Er sah nach meiner Verwundung, konnte aber nicht helfen, da wir beide kein Verbandszeug hatten, von der erforderlichen Menge ganz zu schweigen. Ich riet ihm noch, sich am Rande des Ortes entlangzuschleichen, da die Russen gewiß noch eine ganze Zeit mit Plündern in den Häusern beschäftigt seien, mich sollte er liegen lassen, denn mir sei wohl doch nicht mehr zu helfen. Darauf erklärte er – fast in Befehlsform – ich solle die Klappe halten und ruhig bleiben, selbstverständlich nehme er mich mit. Ich hatte auch nicht mehr die Kraft und war schon gar nicht mehr in der Verfassung zu widersprechen.

Eine furchtbare Strapaze verbunden mit Angst, Hindernissen und Schmerzen für mich begann. Auf dem Rücken liegend, die linke Hand und den linken Unterarm auf meine Bauchwunde gepreßt zog mich mein Kamerad an meiner ausgestreckten rechten Hand wie einen Schlitten hinter sich her durch den Schnee. Er ging gebückt und aufmerksam die Gegend beobachtend auf dem Feldweg dicht an die Büsche gedrückt in Richtung des östlichen Dorfrandes. Aus den Häusern hörten wir Stimmen und Lärm der russischen Soldaten, während wir in gebührendem Abstand durch die hinteren Gärten – oft im Schutz von Ställen und Schuppen – schleichend unseren Weg suchten. Einigemale mußten wir Lattenzäune überwinden, die sich zwischen den Gärten befanden. Mein Kamerad trat vorsichtig und möglichst leise im Sitzen einige senkrechte Holzlatten heraus, schob mich dicht an den Zaun und half mir durch Heben und Ziehen mit meiner schwachen Unterstützung über die untere Querlatte. Das kostete Zeit und Kräfte und bereitete mir große Mühe und Schmerzen. So erreichten wir den südlichen Dorfrand, nachdem ich unterwegs meinen selbstlosen Helfer des öfteren aufgefordert und angefleht hatte, mich liegen zu lassen – die Schmerzen und die Hoffnungslosigkeit in dieser Situation machten mir zu schaffen – und doch sich selbst in Sicherheit zu bringen. Barsch lehnte er jedesmal ab. Wir konnten endlich das Dorf verlassen. Wieder zog er mich wie einen Schlitten hinter sich her, gebückt schneller gehend unter Ausnutzung des durch Buschwerk geschützten Weges. Ich weiß nicht, wie lange wir brauchten, bis wir den Wald südlich von Moritten erreichten.

Nun ging es durch den Wald, der uns mehr Schutz bot. Ich konnte Schmerzen und Anstrengungen kaum noch aushalten. Plötzlich sagte mir mein Kamerad leise, daß ich still sein und liegen bleiben solle. Er hatte aus einiger Entfernung Geräusche und wohl auch Stimmen gehört; er war verschwunden. Nach einiger Zeit hörte ich Schritte und leises Sprechen. Mein Kamerad kam mit zwei deutschen Soldaten zu mir zurück. Ich konnte nicht fassen, was geschehen war. Dann erfuhr ich, daß ein Funkwagen unserer Division gerade seine Stellung räumte, um sich weiter in Richtung der vorgesehenen Auffangstellung abzusetzen. Die drei Soldaten schafften mich mit vereinten Kräften die kurze Strecke zu dem Funkwagen, wo noch einige andere Funker warteten. Sie breiteten eine Decke aus dem Wagen auf dem Boden aus und legten mich darauf, um mich mit Verbandsmaterial aus dem Wagen notdürftig zu verbinden. Danach hoben sie mich auf den Beifahrersitz. Mein Fluchtkamerad hatte sich neben mich gequetscht, hielt mir die Hand und sprach mir Mut zu. Sie würden mich zu einem weit zurückliegenden Hauptverbandsplatz fahren, von dem sie über Funk erfahren hätten, er bleibe bis dahin bei mir. Zeitweilig stellte er sich draußen außerhalb der Tür auf das Trittbrett des Funkwagens neben mir. Ich glaube, oft war ich ohne Besinnung, denn meine Erinnerung an Einzelheiten der Fahrt ist sehr getrübt und lückenhaft.

Es dämmerte schon, als man mich beim Hauptverbandsplatz in der kleinen Schule des ostpreußischen Dorfes Hermsdorf auslud. Mein Fluchthelfer stand neben mir, als ich auf einem Tisch abgelegt wurde, der offensichtlich als Verbands– und OP–Tisch hergerichtet war, drückte er mir noch einmal die Hand und verabschiedete sich mit vielen Wünschen von mir. Ich habe ihn nie wieder gesehen und kannte auch nicht einmal seinen Namen.

Von diesem Zeitpunkt an habe ich keine Erinnerungen mehr, wahrscheinlich bekam ich gleich eine Narkose. Ich kam wieder zu mir, als es noch recht dunkel war, vielleicht zum Ende der Nacht oder am frühen Morgen. Der Raum – wahrscheinlich ein ehemaliges Klassenzimmer – war von einer Petroleumlaterne schwach beleuchtet, ich lag auf einem bezogenen Lager auf dem Fußboden. Neben mir und auch mir gegenüber lagen verwundete Soldaten, die zum Teil sehr unruhig waren und stöhnten, offensichtlich einige auch frisch operiert. An der Wand neben der Tür saß auf einem Stuhl ein wachhabender Sanitäter. Ich spürte, daß mir etwas um den Hals gebunden war. Wie ich erst später herausbekam, hatte man mir das aus der Bauchhöhle entfernte aufgeborstene Geschoß wohl als "Andenken" in eine Mullbinde eingeknotet um den Hals gehängt.

Ich verspürte einen furchtbaren Durst und sah im Dämmerlicht eine große Kanne unter dem Stuhl des Sanitäters stehen. Auf mein Rufen kam er zu mir. Als ich um Wasser bat, fuhr er mich fast an: "Du darfst nichts trinken, du hast einen Bauchschuß." In dem Raum war es inzwischen sehr unruhig geworden. Stöhnende und wimmernde Verwundete riefen nach dem Sanitäter und erhielten Spritzen. Ich entdeckte neben mir auf meinem Lager ein zusammengefaltetes Stück Papier. Als es heller geworden war, entfaltete ich es und las es. Es war der ärztliche Befund und Bericht, der jeden verwundeten und auf dem Hauptverbandsplatz versorgten Soldaten zum Zwecke der Information und weiteren Behandlung bis zum Heimatlazarett begleitet; ich kannte das schon von früheren Verwundungen 1943. Ich entnahm dem Befund, daß mein Bauch eine etwa 25 cm breite klaffende Schußwunde aufwies. Zahlreiche Rippen waren durch das Explosivgeschoß zersplittert, ein etwa 2 cm breiter Streifen von der Leber abgerissen und der Dickdarm verletzt. Man hatte das aufgeborstene Geschoß aus dem Bauch entfernt, eine geronnene Blutschicht aus der Bauchhöhle beseitigt und mir eine Bluttransfusion gegeben. Jetzt wußte ich, wie es mit mir aussah.

Meine Erinnerungen an den weiteren Verlauf sind sehr lückenhaft, da ich wohl häufig ohne Besinnung war und ein weiterer hier beginnender Umstand mich zeitweilig hinderte, meine Umwelt noch genau wahrzunehmen. Ich hatte oft heftige Schmerzen und immer Durst und rief nach dem Sanitäter, der auch kam und nach mir sah. Dann verschwand er und kam mit einer Spritze und Ampulle zurück und gab mir eine Injektion in den Oberschenkel. Es setzte darauf dieser Zustand ein, den ich in den nächsten Wochen noch sehr häufig erleben sollte. Mein Bewußtsein und damit auch die Schmerzen schwanden, wahrscheinlich schlief ich auch ein. Zeitweilig hatte ich das Gefühl, völlig schwerelos zu schweben; ich weiß nicht wie lange dieser Zustand anhielt. Jedenfalls war mir auf diese Weise geholfen - auch Sanitäter und später Rotkreuz-Schwestern hatten erst einmal Ruhe.

Im Laufe des Tages hörte ich, wenn die Tür geöffnet wurde, verschwommen aus der Ferne grollenden Geschützdonner. Die Front konnte also nicht sehr weit entfernt sein. Auch bei uns wurde es zunehmend unruhiger. Sanitäter und gehfähige leicht verwundete Soldaten liefen geschäftig hin und her. Es mochte schon später Nachmittag sein, als man begann uns Verwundete auf Tragen nach draußen zu tragen. Als ich draußen ankam, sah ich in der Dämmerung auf der Straße einige Leiterwagen stehen, die mit Stroh aufgefüllt waren. Auf diese wurden wir Schwerverwundete gelegt. Dann schoben und zogen Sanitäter und Leichtverwundete die Wagen die Dorfstraße entlang zum Bahnhof des Dorfes. Hier lud man uns um in einige mit Stroh ausgelegte geschlossene Güterwagen. Wie wir hörten, war es gelungen, eine Lok wieder in Betrieb zu nehmen, um mit zwei oder drei Güterwagen, beladen mit Verwundeten, in Richtung Heiligenbeil ans Haff zu fahren. Von hier aus könne man uns per Schiff über das Haff nach Pillau und von dort durch die Ostsee in Richtung Heimat transportieren.

Versehen mit einer weiteren Morphium-Spritze landete ich – nicht mehr bei voller Besinnung – mit vielen anderen Verwundeten in einem Güterwagen auf Stroh gelegt. Als ich wieder zu mir kam, fuhren wir bereits. In dem unruhig rumpelnden Wagen war es dunkel. Nur eine Stalllaterne neben einem auf dem Boden sitzenden Sanitäter in der Nähe der geschlossenen Schiebetür beleuchtete die gespenstische Szenerie. Einige leichter verwundete Soldaten konnte ich in dem schwachen Licht mit verbundenen Köpfen oder Armen auf dem Stroh sitzend erkennen. Wir fuhren die ganze Nacht, oft unterbrochen von sehr langen Pausen, in denen wir vom Sanitäter – soweit möglich – versorgt wurden, was für die Wimmernden und Stöhnenden in der Regel eine weitere Spritze gegen die Schmerzen bedeutete.

Wir hörten, daß die Pausen meistens durch zugefrorene Weichen entstanden, die erst per Hand mit primitiven Werkzeugen bei eisiger Kälte umgestellt werden konnten, was von fachkundigen Leichtverwundeten besorgt wurde. Die Strecke von Hermsdorf bis Heiligenbeil betrug etwa 40 km, wie uns gesagt wurde. Soweit ich mich erinnern kann, benötigten wir dafür noch den ganzen nächsten Tag und die darauffolgende Nacht. Wir trafen also nach etwa zweitägiger Fahrt im Laufe des Tages bei Helligkeit in Heiligenbeil ein. Unser Zug hielt nicht auf dem Bahnhof, sondern irgendwo auf freier Strecke am Ortsrand neben einer Straße. Hier standen einige Zeit nach unserer Ankunft wieder Fuhrwerke, diesesmal mit Pferden bespannt, zu unserer Abholung bereit. Erstaunt war ich, Zivilbevölkerung zu sehen. Ältere Männer und auch Frauen luden uns aus den Güterwagen um auf die Pferdewagen und fuhren uns in eine Schule, die als Hilfslazarett eingerichtet war. Ein Arzt und auch einige Rotkreuz–Schwestern versorgten uns. Ich lag in einem Bett! Mein Zustand war furchtbar: Schmerzen, Durst und oft schwindendes Bewußtsein. Noch am gleichen Tage bekam ich neue Verbände und wurde, so gut es ging, im Gesicht und am Oberkörper gewaschen und mit frischer Unterwäsche versorgt. Auch meine vom Geschoß zerrissene und mit viel angetrocknetem Blut verschmutzte Uniformjacke wurde durch eine andere Jacke ersetzt.

Nach einer Nacht, an die ich keine Erinnerung mehr habe, wurde ich am nächsten Morgen schon sehr früh zusammen mit anderen Verwundeten wieder auf Pferdewagen von alten Männern und Frauen geführt auf einer holprigen verschneiten Straße zu dem etwa 5 km entfernten Rosenberg, dem Hafen am Haff, gefahren. Dort wurden wir auf ein kleines Schiff geladen, das auch bald mit uns abfuhr. Wie man uns erzählte, hatte ein Eisbrecher eine Fahrrinne von Rosenberg nach Pillau, an der anderen Seite des Haffs, freigelegt. Wir kamen auch bald dort an und wurden gleich am Kai ausgeladen und wieder in ein Behelfslazarett in Holzbaracken direkt am Kai getragen. Ich lag hier wieder in einem bezogenen Bett mit einem Fenster daneben und hatte so einen Blick auf die Hafenanlagen.

Ein junger Arzt kümmerte sich als erster um mich. Er ließ sich von mir alle meine Erlebnisse vor und nach meiner Verwundung berichten. Dann öffnete er meinen Verband, reinigte Wunde und Wundränder von verschmiertem und angetrocknetem Blut und legte mit Hilfe einer Schwester einen neuen Verband an, nachdem er auch reichlich mit Desinfektionsflüssigkeit gearbeitet hatte. Ich kam mir frisch und wie neugeboren vor, kein süßlicher abstoßender Gestank nach Blut und Wundabsonderungen. Ich klagte über furchtbaren Durst. Der Arzt wiederholte, was ich schon so oft gehört hatte: "Du hast einen Bauchschuß und darfst vorerst nicht trinken." Gegen Abend kam er wieder und gab mir als erstes eine intravenöse Traubenzucker–Injektion zur Stärkung. Ich hatte seit dem 8. Februar, also seit etwa 5 Tagen, weder essen noch trinken dürfen, allerdings auch nicht den geringsten Hunger verspürt; aber der Durst wurde immer unerträglicher. Als ich wieder um ein Getränk bettelte, sagte mir der Arzt: "Ich will dir helfen, aber du mußt mir versprechen, meine Anweisung genau zu befolgen." Dann verschwand er und kam nach kurzer Zeit mit einer angebrochenen Sektflasche und einer Mullbinde wieder. Er sagte: "Ich tränke jetzt diese aufgerollte Mullbinde mit Sekt und lege sie auf deine Lippen. Dann kannst du daran saugen, aber versprich mir, sie nicht runterzuschlucken!" Ich versprach es. Er goß etwas von dem Sekt auf die Mullbinde und legte sie mir auf den Mund; ich saugte begierig. Mit Sicherheit konnte nicht die geringste Flüssigkeitsmenge überhaupt meinen Magen erreichen. Mit Pausen dazwischen wiederholte er diese Prozedur noch einigemale. Es war jedesmal ein herrliches Gefühl.

Da es mir die folgenden Tage meistens sehr schlecht ging und ich gegen die Schmerzen des öfteren Morphium-Spritzen erhielt, konnte ich die Tage und Nächte nicht zählen und weiß also nicht wie lange ich in Pillau war. Ich hörte nur und sah auch manchmal durch mein Fenster, daß täglich Schiffe abfuhren in die Ostsee wohl in Richtung Norddeutschland. Sie waren voll besetzt mit vielen Frauen und Kindern – wohl aus Königsberg – und verwundeten Soldaten. Wir befanden uns ja hier in Pillau zusammen mit Königsberg in dem nördlichen Kessel. Die Rote Armee hatte Ostpreußen durch den schnellen Vorstoß in einen nördlichen und einen südlichen Kessel geteilt. Meine Hoffnung war groß, nun auf dem Seewege durch die Ostsee zurück in die Heimat zu gelangen. Bei seinen laufenden Besuchen bestärkte mich der Arzt in dieser Hoffnung und sagte, er werde dafür sorgen, daß ich auf eines der nächsten Schiffe mit verladen würde.

Schließlich nach einigen unerträglichen Tagen des Wartens, der Schmerzen und der Ungewißheit war es endlich soweit. Ich wurde auf einer Trage an den Kai gebracht. Dort lagen schon einige andere Verwundete neben der Bordwand eines Schiffes. Außerdem standen Frauen mit Kindern und ältere Männer umher, die offensichtlich von Feldjägern (Militärpolizei) und Marinesoldaten kontrolliert wurden. Sie gehörten wohl zu den Glücklichen, die einen Schiffsplatz zugewiesen bekommen hatten und so das eingezingelte Königsberg und Umgebung verlassen konnten. Neben dem Schiff stand eine große Holzplattform, aus Balken zusammengefügt wie ein Floß, die mit Seilen an dem Hebebaum des Schiffes befestigt war. Auf diese Plattform legte man uns Verwundete – ich schätze uns auf etwa sechs – und auf ein Kommando hob man uns in die Lüfte, schwenkte und ließ uns in den Schiffsrumpf hinunter. Hier wurden wir von Marinesoldaten von der Plattform gehoben und zwischen Gerätschaften und mir unbekannten Gegenständen auf ein Lager von Lumpen gebettet. Zwischen vielen Verwundeten hockten und lagen zahlreiche ostpreußische Flüchtlinge. Auch einige Rotkreuz–Schwestern mit Sanitätstaschen und Sanitätsmaterial waren zur Betreuung der Verwundeten dabei. Eine der Schwestern gab mir gleich wieder wegen meiner Schmerzen und zur Beruhigung die übliche Spritze.

Als ich munter wurde, war es dunkel. Ich hörte und spürte am rhytmischen Zittern und Rattern, daß das Schiff wohl auf Fahrt war. Unbeschreibliche Zustände in meiner Umgebung nahm ich wahr: stöhnende Verwundete, schreiende Kinder und weinende Mütter. Wie spät mochte es sein? Erst als durch die Öffnungen zum Oberdeck Tageslicht einfiel, sah ich zu meiner Armbanduhr; es war früher Vormittag.

Plötzlich gab es einen Stoß, die Schiffsmaschinen standen still. Eine lange Zeit tat sich gar nichts. Viele Flüchtlinge bekamen Angst und wurden unruhig. Durch die weit geöffneten Schotten zum Oberdeck rieselten Schneeflocken auf unsere Decken und durchfeuchteten diese, da sie schnell auftauten. Dann wieder ein Stoß und ein Zittern, die Maschinen sprangen an, wir setzten die Fahrt fort. Nach kurzer Zeit liefen wir einen Hafen an - es war Danzig. Große Enttäuschung bei allen, da wir damit gerechnet hatten, nach längerer Fahrt einen mecklemburgischen oder schleswig-holsteinischen Hafen anzulaufen, um so der Ostfront doch erheblich ferner zu sein. Nun waren wir nach kurzer Fahrt von Pillau durch die Danziger Bucht nach Danzig gefahren. Der Einkesselung in Ostpreußen waren wir entronnen.

Gleich im Hafen wurden wir wieder mit dem kranartigen Hebebaum ausgeladen und nur wenige Schritte weiter in eine der großen Kaihallen transportiert und dort auf Stroh in unmittelbarer Nähe des Eingangstores niedergelegt. Hier war es unangenehm kalt und zugig; aber unsere Träger waren wohl zu bequem, uns weit in das Innere der mit vielen Verwundeten belegten Halle zu tragen. Das sollte sich für mich noch als Vorteil erweisen. Ich lag noch nicht lange, da kamen wieder Sanitäter und andere Soldaten mit Tragen. Gleich am Tor fingen sie an, die ersten, zu denen auch ich gehörte, auf die Tragen zu packen und nach draußen zu bringen; hinter uns Schreien und Schimpfen der Verwundeten, die sicher schon länger hier lagen aber unglücklicherweise nicht in unmittelbarer Nähe des Tores. Draußen auf den Geleisen am Kai stand ein moderner Lazarettzug, eingerichtet mit jeweils zwei Betten übereinander an jeder Abteilseite. Ich bekam als Schwerverwundeter ein unteres Bett – weiß bezogen. Völlig entkräftet und mit großen Schmerzen lag ich auf dem Rücken. Das war die einzige Position, in der ich überhaupt liegen konnte und die ich – was ich damals noch nicht ahnte – noch etwa vier Monate einnehmen mußte.

Nach einiger Zeit kamen ein Arzt und eine Schwester zu einer Visite. Da meine Schmerzen so unerträglich waren, bekam ich wieder eine Spritze. Ich fiel gleich danach in einen schlafähnlichen Zustand. Als ich munter wurde, war es wohl schon lange Zeit dunkel und der Zug fuhr; ich weiß nicht, wann er in Danzig abgefahren war. Ich weiß auch nicht, wieviele Tage wir unterwegs waren. Oft bekam ich Spritzen, häufig war ich ohne Besinnung. Jedenfalls erfuhr ich, daß wir entlang der deutschen Ostseeküste fuhren in Richtung Westen. Über Lübeck bog dann der Lazarettzug in südliche Richtung. Ich wurde dann in Verden an der Aller ausgeladen und in das Lazarett im Dom-Gymnasium gefahren. Es muß nach meiner späteren Berechnung wahrscheinlich der 26. Februar 1945 gewesen sein.

Alle diese letzten Ereignisse habe ich kaum noch in meiner Erinnerung, da ich fast immer ohne Besinnung war.

Ich besitze noch das Original des Telegrammes, das meine Eltern am 1. März 1945 vom Lazarett in Verden erhielten. Wie ich später erfuhr, war mein Zustand so bedenklich, daß die Ärzte damit rechneten, ich würde nicht mehr überleben.






Zweiter Teil:




Aus dem Dunkel meiner Erinnerungen taucht ein Bild auf: ein Krankenzimmer mit einigen Betten, in denen Verwundete liegen. Mir wird bewusst, dass ich in einem weiß bezogenen Bett auf dem Rücken liege, mich kaum bewegen kann und meine Umwelt wie durch einen grauen Schleier nur schemenhaft wahrnehme. Männer in weißen Kitteln - wohl Ärzte - und Krankenschwestern stehen neben meinem Bett, reden miteinander und betasten mich. Mein Bauch scheint unbedeckt, also bloß zu sein. Danach reißt der Faden wieder ab.

Ein weiteres Bild: Wieder liege ich in einem Bett, um mich herum ist alles still und völlig ruhig. Ich habe die Augen aufgeschlagen. Mir ist, als ob ich aus tiefem Schlaf komme, soeben wach geworden. Meine Umgebung kann ich deutlich wahrnehmen; doch meinen Kopf zu bewegen und zu drehen, fällt mir schwer. Leichte wellenartige Schmerzen im Bauchbereich wecken langsam mein Erinnerungsvermögen: verwundet - Bauchschuss - Lazarett, wo bin ich? Neben mir sehe ich eine Toilette, Badewanne, Waschbecken. Ich liege in einem gekachelten Raum. Mir dämmert es; das muss ein Badezimmer sein.

Jetzt wurden ganz plötzlich Erinnerungen in mir wach: 1943 - Lazarett in Wien. Nach den schweren Rückzugskämpfen in Südrussland wurden laufend Verwundete eingeliefert. Ich hatte bei einem Nachtgefecht in der Nogaischen Steppe nördlich des schwarzen Meeres einen MG-Durchschuss durch den rechten Oberschenkel erhalten und war Anfang November in einem Lazarett in Wien gelandet. Hier erlebte ich, wie man Schwerverwundete - als man mit ihrem Ableben rechnete - aus dem Krankenzimmer in das Badezimmer schob, um den anderen Verwundeten den Anblick des sterbenden Kameraden zu ersparen.

So sieht es also jetzt mit mir aus? Dieses plötzliche Bewusstwerden meiner augenblicklichen Lage mobilisierte meine Lebensgeister. Das kann doch nicht, das darf doch nicht sein - ich will doch nicht sterben! Da öffnet sich langsam und vorsichtig die Tür, die genau meinem Blick gegenüberliegt. Eine Schwester ist zu sehen, die behutsam einen Schritt auf mich zukommt und mich ansieht. Ich weiss nicht mehr genau, was ich ihr sagte; ich weiss nur noch, dass ich zu ihr sprach. Vermutlich waren es die Worte: "Schwester, noch nicht!" Sie drehte sich um und verliess eilig das Badezimmer. Nach einer mir sehr lang erschienenen Zeit standen plötzlich mehrere Personen an meinem Bett, offensichtlich einige Schwestern und der Stationsarzt. Letzterer ergriff mit einer Hand meinen Arm und fühlte meinen Puls, die andere Hand legte er auf meine Stirn, Danach gab er den Schwestern wohl einige Anweisungen. Jedenfalls schoben diese mein Bett mit mir aus dem Badezimmer hinaus über den Flur in ein Krankenzimmer, in dem einige Verwundete in ihren Betten lagen.

Es muss viel Zeit vergangen sein, möglicherweise auch einige Tage. Ich wurde wach; es war heller Tag. Wie durch einen Schleier nahm ich wieder meine Umgebung wahr: ein Zimmer mit einigen Betten, in denen Verwundete lagen. Langsam kamen mir die Erinnerungen an die vergangenen Ereignisse ins Bewusstsein. Als ich versuchte, meine Umgebung genauer zu erfassen und meinen Kopf drehte, sah ich, dass jemand neben meinem Bett saß und mich ansah. Ich erkannte plötzlich das Gesicht: Das ist ja mein Vater! Neben ihm stand ein Mann im weißen Kittel, wohl ein Lazarettarzt. Mein Vater sagte etwas zu mir. Ich weiss nicht mehr, ob ich ihn verstand; aber ich weiss noch, dass wir ein paar Worte miteinander sprachen. Ich erinnere mich auch noch, dass mein Vater am nächsten Tag noch einmal an meinem Bett saß und sich dann von mir verabschiedete, weil er wieder auf abenteuerlichem Wege die Rückfahrt nach Hildesheim antreten musste. Es war ja immerhin Anfang März 1945, also wenige Wochen vor Ende des Krieges, und alliierte Truppen näherten sich bereits zu dieser Zeit dem norddeutschen Raume.

Mein Zustand schien sich von diesem Zeitpunkt an langsam zu stabilisieren. Die häufigen Bewusstlosigkeiten nahmen ein Ende. Ich beschäftigte mich mit meiner Lage und registrierte, was man mit mir machte. Ein Drain war inzwischen in meine klaffende Bauchwunde eingeschoben worden und wurde täglich gereinigt. Das war ein Gummischlauch, der Wundsekrete ableiten sollte. Da durch das Explosivgeschoss viele Rippen zersplittert waren, mussten hin und wieder noch kleine Knochensplitter aus der Wunde entfernt werden. Jeden Abend bekam ich zur Linderung der Schmerzen und zur Ruhigstellung für die Nacht Morphium-Spritzen in den Oberschenkel. Seit der Verwundung am 8. Februar war ich infolge des großzügigen Einsatzes von Morphium-Spritzen seitens der Schwestern und Sanitäter auf dem Verbandsplatz, im Schiff und im Lazarettzug schon an diese gewöhnt und wohl bereits abhängig, was mir überhaupt nicht bewusst war. Nach jeder abendlichen Spritze verfiel ich in einen seligen Schwebezustand gänzlich ohne Schmerzen und ohne Wahrnehmung meiner doch so unbequemen und nicht veränderbaren ständigen Rückenlage. Ich hatte das Gefühl, mitsamt meinem Bett langsam in die Höhe zu gleiten und im Raum zu schweben ohne Wahrnehmung der realen gegenständlichen Gegebenheiten des Krankenzimmers tief unter mir. Dieser wohlige Zustand schien dann langsam aber sicher in den Schlaf überzugehen, dessen ich zur Besserung meines Zustandes und meines instabilen Befindens offensichtlich dringend bedurfte.

Ich erinnere mich noch, dass eines Vormittags anlässlich einer Visite des Chefarztes dieser mir beiläufig mitteilte, ab heute Abend würde ich keine Spritze mehr bekommen. Das nahm ich zur Kenntnis, ohne weiter darüber nachzudenken. Als der Zeitpunkt der gewohnten Abendspritze dann näher rückte, stellte sich bei mir die übliche leichte Unruhe ein, die ich immer zu dieser Zeit vor der Spritze spürte. Nun nahm diese ständig zu und steigerte sich bis zum späten Abend ins schier Unerträgliche. Ich hatte das Gefühl, mein ganzer Körper zitterte, und eine nicht mehr auszuhaltende Unruhe erfasste mich. Als die Nachtschwester anlässlich ihres ersten Rundgangs an mein Bett kam, flehte ich sie an, mir doch die gewohnte Spritze zu geben. Aber sie durfte nicht und blieb hart. Soweit ich mich erinnere, schlief ich wohl die ganze Nacht nicht ein. Erst im Laufe des nächsten Tages legte sich nach und nach die Unruhe, und mein Zustand wurde erträglicher. Aber es ging mir noch einige Nächte ähnlich, bis ich gottseidank die Folgen der Entwöhnung überstanden hatte. Offensichtlich war ich, ohne dass es mir bewusst wurde, durch den wohl gut gemeinten großzügigen und unkontrollierten Einsatz von Morphium in Abhängigkeit und Sucht geraten.

Häufig wurde ich zu kleineren Eingriffen und dem Wechsel des Drains in den OP gefahren. Hier erfuhr ich auch, dass das Schließen der breiten klaffenden Wunde den Ärzten Probleme bereitete. Die Wundränder lagen weit auseinander and waren schwer durch eine Naht zusammenzuziehen. Inzwischen hatte ein Chirurg den aufgerissenen Dickdarm wieder durch eine Naht geschlossen. Aber wenige Tage später war eine Öffnung an der Nahtstelle entstanden; eine Fistel hatte sich gebildet. Die Wunde musste täglich gereinigt werden. Seit einiger Zeit durfte ich wieder etwas essen, erhielt aber immer noch wie die ganze vergangene Zeit Traubenzucker-Injektionen. Dann versuchte man eines Tages doch mit Hilfe einer Naht die beiden Wundränder enger zusammenzubringen und zu fixieren. Aber schon wenige Tage danach hielt ich es vor brennendem Schmerz in meiner Bauchdecke nicht mehr aus. Erst auf mein nachhaltiges Drängen öffnete der Arzt den Verband und stellte fest, dass einige Fäden von den Einstichstellen aus den Wundrand nach innen durchschnitten hatten und verrutscht waren, wahrscheinlich durch die Spannung der Bauchdecke verursacht. Wieder wurde ich in den OP gefahren. Zwei Ärzte bemühten sich jetzt, sehr vorsichtig die Fäden zu ziehen und, wie sie mir beruhigend erklärten, nach einem anderen Verfahren eine neue sichere Naht anzulegen, was ihnen auch offensichtlich gelang, denn ich hatte danach keine Schmerzen wieder, und die Naht hielt.

Obwohl mein Zustand sich allmählich besserte und auch mein Befinden langsam erträglicher wurde, belasteten mich doch einige Unannehmlichkeiten weiterhin, Da war zum einen der Umstand, dass ich nur auf dem Rücken liegen konnte und jede kleine Körperbewegung Schmerzen im Bauchbereich auslöste. Die Gefahr des Durchliegens im Rückenbereich war groß. Aber die ständigen Kontrollen und Pflegemaßnahmen mit Creme und Puder verhinderten das. Der aufmerksame und ständige Einsatz der Schwestern und Sanitäter waren mir eine große Hilfe. Ein weiteres Übel machte mir zusätzlich Schwierigkeiten. Beweglichkeit und Empfindungsgefühl beider Hände und der Finger waren stark gestört, was ich fast wie eine leichte Lähmung empfand. Schreiben konnte ich nicht; die gesamte Feinmotorik meiner Finger versagte. Die Ärzte erklärten mir, dass wahrscheinlich durch das Explosivgeschoss irgendeine Partie meiner Wirbelsäule einen starken Schlag abbekommen habe und diese Erscheinung dadurch ausgelöst sei. Eine Verletzung könnten sie nicht feststellen. Darum seien sie überzeugt, dass sich diese Behinderung bald wieder legen werde, womit sie glücklicherweise Recht behalten sollten. Ich war jedenfalls wegen der Rückenlage und der Behinderung meiner Hände auf die Hilfe der Schwestern und Sanitäter angewiesen: Essen, Trinken, Benutzung des Schiebers und der Urinflasche, Waschen der Hände und des Gesichts und die Verrichtung vieler anderer Kleinigkeiten.

Eines Vormittags, es muss wohl Ende März oder Anfang April gewesen sein, kam ein Sanitäter zu mir und teilte mir mit, dass vor einigen Tagen ein Leutnant Bähre als Verwundeter eingeliefert sei, der auch aus Hildesheim, meiner Heimatstadt, stamme. Er fragte, ob ich ihn kenne; jedenfalls solle er Grüße von ihm ausrichten. Als ich ihm den Vornamen Karl-Heinz (Wir nannten ihn "Kalli".) sagte, bestätigte er das. Er berichtete mir weiter, dass Karl-Heinz Bähre einen Schussbruch des rechten Oberarms durch einen Granatsplitter erhalten habe und einige Räume weiter läge. Ich richtete Grüße aus. Der Sanitäter versprach mir, dass sie ihn wahrscheinlich noch heute Nachmittag in seinem Bett zu mir zu Besuch schieben würden. Wir kannten uns aus unserer Schüler- und Jugendzeit in Hildesheim. Als "Kalli" dann tatsächlich neben mir in seinem Bett lag, hatten wir uns viel zu erzählen. Seine große Sorge war, ob sein rechter Arm wieder vollständig gesund würde. Er war wie ich kein Berufsoffizier und wollte einmal Förster werden, und dazu brauchte er zwei gesunde Arme - schon zum Halten eines Jagdgewehrs. Der Granatsplitter hatte den rechten Oberarmknochen durchschlagen und arg zertrümmert. Wir tauschten noch alte Hildesheimer Erinnerungen aus, und dann wurde "Kalli" wieder in sein Zimmer zurückgefahren.

Über die politische und militärische Lage in Deutschland waren wir im Lazarett nur unzureichend informiert. Die einzige Informationsquelle waren Wehrmachtsbericht und Nachrichten aus dem Rundfunk, die allerdings ganz offensichtlich gefärbt waren und nicht ganz den Tatsachen entsprachen, Außerdem strotzten sie von Durchhalteparolen. Wir wussten nur, dass schon große Teile West- und Ostdeutschlands von feindlichen Truppen besetzt waren. Die wildesten Gerüchte, vor allem unser Schicksal betreffend, gingen im Lazarett um. Mal hieß es, wir sollten in Richtung Elbe, also zum Osten hin, verlegt werden, da man Verden zur Festung erklären wollte, um es gegen die anrückenden Engländer zu verteidigen und diese dadurch aufzuhalten. Eine große Unruhe machte sich bei den Verwundeten im Lazarett bemerkbar. Schließlich war die Entscheidung gefallen. Wir wurden eines Morgens in Sanitätskraftwagen verladen und in das Dorf Kirchlinteln gefahren, das etwa 12 km entfernt von Verden liegt. Ich wurde mit mehreren anderen Verwundeten in den Saal eines Dorfgasthauses, das man mit Feldbetten vollgestellt hatte, verlegt und lag nun sehr unbequem wieder wie schon gewohnt auf dem Rücken in diesem notdürftigen Quartier. Von älteren Dorfbewohnern, die bei der Umquartierung halfen, hörten wir, dass schon seit einigen Wochen wohl im ganzen norddeutschen Bereich ein Chaos herrsche, Züge verkehrten nicht mehr, Post, Telefon und Versorgung waren zusammengebrochen. Das also war auch der Grund, warum ich nach dem Besuch meines Vaters in Verden nichts mehr von meinen Eltern erfahren hatte.

Zum Glück war unser Aufenthalt in Kirchlinteln nur von kurzer Dauer. Bereits nach zwei Übernachtungen wurden wir wieder verladen und mit Sanitätswagen nach Kirchwalsede transportiert, das etwa 15 km weiter nördlich liegt. Hier wurden wir wieder in einem Dorfgasthaus untergebracht. Ich kam mit sechs anderen Offizieren in einen größeren Raum, glücklicherweise mit Lazarettbetten ausgestattet. Neben mir lag mein Hildesheimer Freund "Kalli" Bähre. Das erwies sich in den nächsten Tagen als sehr angenehm und hilfreich für mich, denn außer ablenkenden gemeinsamen Gesprächen konnte mir "Kalli" manche kleine Hilfe geben, da er aufstehen konnte und mir mit seiner linken Hand manchen Dienst erwies. Ich lag immer noch auf dem Rücken und war in den meisten Dingen auf Hilfe angewiesen.

Obwohl wir hier in Kirchwalsede auch nicht sehr lange untergebracht waren - ich schätze, es waren knappe zwei Wochen - war es eine erlebnisreiche Zeit, vor allem auch zeitgeschichtlich für uns bedeutsam, da wir hier für uns das Ende des unseligen Krieges erlebten.

Unser Lazarett, das auf mehrere Unterkünfte im Dorf verteilt war, wurde von einem Chefarzt geleitet, der allerdings für die medizinische Versorgung der Verwundeten keine Bedeutung hatte. Er hatte vor dem Kriege eine kleine Praxis in einer oberfränkischen Gemeinde, war aber jetzt als Militärarzt im Range eines Oberstabsarztes, denn er war bereits im 1. Weltkrieg Militärarzt gewesen, wie man uns erzählte. Ihm unterstand das Lazarett, er war also der Kommandant und war Vorgesetzter aller anderen Ärzte, Sanitäter, Schwestern und des übrigen Personals. Ich habe ihn noch in Erinnerung als kleinen runden etwas dicklichen Mann der über seiner Uniform stets den weißen Arztkittel trug, das Stethoskop sichtbar in der oberen linken Kitteltasche, mehr als Zeichen seiner ärztlichen Würde, denn ich habe nie erlebt, dass er es benutzte. Den praktischen Dienst verrichteten die Stabs- und Oberärzte, unter denen nach meiner Erfahrung auch ein sehr tüchtiger Chirurg war, der sich sehr gewissenhaft und einsatzbereit um mich und meine Bauchverwundung kümmerte. Unser Lazarettkommandant, besagter Chefarzt, besuchte sehr oft uns Offiziere in unserem Zimmer, zwar nicht für medizinische Verrichtungen, sondern eigentlich immer, um mit uns Gespräche über die politische und militärische Lage zu führen. Dabei stellte sich dann auch heraus, dass er offensichtlich immer noch ein unverbesserlicher Anhänger des Nationalsozialismus war und wohl hoffte, dass der Krieg noch gewonnen würde, notfalls mit Hilfe eines militärischen Zusammengehens der deutschen Wehrmacht mit den alliierten Truppen gegen die Rote Armee. Mit diesen politischen Ansichten stieß er bei uns Offizieren auf heftige Gegenmeinung, allerdings aus unterschiedlichen Grundeinstellungen herrührend. Dabei war ein Hauptmann, der bei den Kämpfen um Breslau seinen linken Arm verloren hatte, ein heftiger Diskutant gegen die Meinung unseres Chefarztes, was dieser wiederum dem Hauptmann, der ein Sympathisant der Attentäter des 20. Juli gegen Hitler war, keineswegs verübelte, sondern ihn ganz offensichtlich sehr schätzte.

Eine etwas seltsam anmutende Einstellung unseres Chefarztes wurde keineswegs von den Betroffenen geteilt. Er hatte nämlich gar kein Verständnis dafür, dass Verwundete bei kleinen chirurgischen Eingriffen Schmerzen empfanden und lehnte lokale Betäubungen in solchen Fällen konsequent ab. Lautstark forderte er eine couragierte männliche Haltung und bezeichnete jeden Wunsch nach Schmerzenslinderung als zimperlich und eines deutschen Soldaten unwürdig. Nicht selten erlebten wir dieses Schauspiel, denn oft war es erforderlich, dass ein Sequester mit Hilfe eines kleinen Schnittes entfernt werden musste.

Das Kriegsgeschehen in Deutschland war inzwischen in die letzte Phase eingetreten. Wir erfuhren zwar sehr wenig, denn Radio-Nachrichten waren selten zu empfangen und wohl auch ungenau und nicht wahrheitsgetreu. So erfuhren wir Ende April aus dem Rundfunk, dass der "Führer" bei den Kämpfen in Berlin den "Heldentod" gefunden habe und Großadmiral Dönitz sein Nachfolger geworden sei. Die Rote Armee hatte inzwischen die Elbe erreicht. Alle diese Nachrichten lösten bei uns kaum Emotionen aus. Nur die Hoffnung auf ein baldiges Ende dieses furchtbaren Wahnsinns wurde gestärkt.

Schon ein oder zwei Tage nach dieser Meldung erschien bei uns Offizieren unser Chefarzt. Er war sehr aufgeregt und teilte uns mit, dass das Eintreffen englischer Truppen wohl unmittelbar bevorstünde. Er wollte mit uns besprechen, was nun zu tun sei. Wir machten ihm klar, dass er als Lazarettkommandant nun gefordert sei. Er müsse das Lazarett übergeben und dem Engländer versichern, dass sich hier keine Kampftruppen befänden. Er hatte die Hoffnung und den Wunsch, dass einer der verwundeten Offiziere ihn bei diesem Gang begleiten würde. Aber es kamen nur zwei infrage, da alle anderen nicht gehfähig und auch bettlägerig waren. Diese zwei lehnten die Bitte aber ab mit der Begründung, das sei die Aufgabe der Lazarettleitung. Auf unseren Vorschlag befahl er dann zu seiner Begleitung einen Englisch sprechenden Oberarzt und zwei Sanitäter, von denen einer in Ermangelung einer Rotkreuzfahne ein zu einer weißen Fahne umfunktioniertes Betttuch zum Zeichen der Übergabe zu schwenken hatte.

Am späten Nachmittag erfuhren wir dann, dass die Übergabe wie besprochen stattgefunden hatte. Die kleine Gruppe war der sich nähernden englischen Panzerspitze fahnenschwenkend entgegen gegangen und hatte ihre gut einstudierte Rolle fehlerfrei und erfolgreich absolviert. Wir amüsierten uns und machten unsere Witze über das operettenhafte Schauspiel unter der Leitung unseres sonst so "heldenhaften" Chefarztes. Den Rest des Tages und auch den ganzen nächsten Vormittag warteten wir ab, was sich nun ereignen würde, aber nichts geschah. Erst am Nachmittag erhielten wir die Weisung, uns bereitzuhalten für die Übernahme als Kriegsgefangene. Kurze Zeit darauf klopfte man dann auch an unsere Tür. Sie wurde geöffnet. Ein englischer Offizier, begleitet von zwei Soldaten mit Maschinenpistolen, und ein dritter Soldat, der sich dann als Dolmetscher herausstellte, und dahinter unser Chefarzt betraten unseren Raum. Der Offizier machte eine militärische Ehrenbezeigung und gab eine längere mündliche Erklärung ab, die vom Dolmetscher übersetzt wurde. Ich erinnere mich noch genau an den ersten Satz: Sie sind von nun ab Kriegsgefangene seiner Majestät des britischen Königs." Dann folgten weitere Hinweise auf die Haager Landkriegsordnung und die Genfer Konvention, die man beide einzuhalten gedenke. Danach wurden unsere Pflichten aufgezählt: Befolgung und Ausführung aller Befehle und Anweisungen, Abgabe von Waffen, falls Privateigentum wie Offizierspistolen, mit Namensanhänger versehen, und noch vieles mehr. Dann erfolgte wieder eine militärische Ehrenbezeigung durch Anlegen der rechten Hand an die Kopfbedeckung (so hieß das in der deutschen Militärsprache), und die Gruppe verließ unser Zimmer. Jetzt war ich etwas, was ich noch nie im Leben war und wohl hoffentlich auch nie wieder sein werde, ein Gefangener. Ich hatte meine Arme allerdings nicht heben müssen, denn meine "Gefangennahme" erlebte ich im Bett liegend.

Wenige Tage später wurden wir wieder verlegt, jetzt allerdings von englischen Soldaten und Sanitätern, die uns mit Sanitätswagen der britischen Armee nach Rotenburg an der Wümme transportierten, das etwa 20km von Kirchwalsede entfernt liegt. Hier in Rotenburg hatte sich seit vielen Jahrzehnten schon eine von Diakonissinnen betreute Anstalt für geistig Behinderte befunden, die aus vielen Wohn- und Wirtschaftsgebäuden, dem Unterkunftshaus der Diakonissinnen, einer großen Gärtnerei und vielen anderen Einrichtungen bestand. Dieser gesamte Komplex lag in einem herrlichen großen Park, der von einer hohen Mauer umgeben war, die sich um das ganze Anwesen zog. Geistig Behinderte befanden sich hier nicht mehr; sie waren wahrscheinlich Opfer der in der Nazizeit durchgeführten Euthanasie geworden. Die Anlage wurde wohl schon seit einigen Kriegsjahren als Lazarett genutzt und die Diakonissinnen für den Pflegedienst mit übernommen; sie verrichteten ihre Arbeit gemeinsam mit Sanitätern und Rotkreuzschwestern. Nun war alles von den Engländern übernommen worden. Als Kriegsgefangenen-Lazarett eignete sich die Anlage vorzüglich, nicht zuletzt auch wegen der notwendigen Bewachung innerhalb der umschließenden hohen Mauer.

Während der Fahrt im englischen Sanitätswagen in dieses neue Domizil hatte ich noch ein sehr unangenehmes Erlebnis. Ich lag mit drei anderen Verwundeten auf einer der Liegen in dem Wagen. Nachdem wir eine kurze Zeit gefahren waren, hielten wir plötzlich an. Durch die geöffnete Rücktür stiegen zwei britische Soldaten ein und stellten sich in den Mittelgang. Ich dachte, es waren Sanitäter, die zu unserer Begleitung eingestiegen waren; aber schnell wurde ich eines besseren belehrt. Plötzlich kniete der eine Soldat neben meiner Liege und hielt meinen linken Arm fest, während der andere Soldat meine Armbanduhr löste und verschwinden liess. Dann "filzten" sie auf die gleiche Weise noch die drei anderen Schwerverwundeten. Wir waren natürlich nicht in der Lage, uns zur Wehr zu setzen. Der Sanitätswagen hielt wieder an, die beiden öffneten die Tür und sprangen nach draußen. Die Tür wurde von außen zugeschlagen, und unser Wagen fuhr wieder an. Uns war klar, dass das ganze ein wohl überlegtes mit dem englischen Fahrer abgekartertes Spiel war. Der Besitz einer Armbanduhr war, wie wir hörten, für einen einfachen Engländer ein erheblicher Besitz.

Dieses unangenehme Erlebnis wurde dann aber recht bald verdrängt durch die Turbulenzen beim Beziehen unserer neuen Unterkunft. Es stellte sich bei uns sogar ein Stimmungsaufschwung ein, als wir erlebten, dass wir sieben Offiziere wieder zusammen blieben und gemeinsam in einem Raum untergebracht wurden, der nicht nur erheblich größer, sondern auch schöner war als der in Kirchwalsede. Ich glaube, das Zimmer hatte drei oder vier große Fenster an der einen Seite, die uns einen großzügigen Blick in den wunderschönen Park gewährten.

Mein Zustand und mein Befinden hatten sich zum Glück weiter positiv entwickelt. Ich musste zwar immer noch recht unbeweglich auf dem Rücken liegen, konnte aber inzwischen meinen Kopf viel besser drehen. Beweglichkeit und Empfindungsgefühl beider Hände und der Finger waren fast vollständig zurückgekehrt. Auch die Nähte meiner Bauchwunde erfüllten ihre Aufgabe und sorgten dafür, dass die breite Wunde sich langsam verengte. Schwierig gestaltete sich der häufige Wechsel der Verbände, der wegen der laufenden Wundversorgung notwendig war. Schon seit meiner Einlieferung in das Lazarett in Verden war das Verbandmaterial Mangelware geworden. Sanitäter und Ärzte verwendeten im wesentlichen Zellstofflagen und auch Zellstoffbinden statt Mullbinden und Mullabdeckungen. So war es auch jetzt hier in Rotenburg. Diese behelfsmäßigen Verbände waren natürlich schnell durchnässt und konnten nur in stückweisen Fetzen beim Wechsel abgenommen werden. Ich litt sehr unter der starken Geruchsbelästigung dieser durchweichten Papierverbände.

Einige Tage nach unserer Verlegung erlebten wir eine interessante Arztvisite. Die Verbände meiner Bauchwunde wurden vorher von Schwestern abgenommen. Dann erschien in unserem Zimmer eine ungewöhnlich große Gruppe von Ärzten und anderem Personal. Wie wir schnell feststellten, handelte es sich um die Visite eines englischen Militärarztes mit Dolmetscher und einem Assistenten, begleitet von dem deutschen Chefarzt und anderen Ärzten, Schwestern und Sanitätern. Die Gruppe ging von Bett zu Bett. Der deutsche Oberarzt erläuterte dem englischen Arzt jeden einzelnen Fall. Diese Visite hatte für mich sehr angenehme Folgen. Als der Oberarzt meine Verwundung und die Schwierigkeiten erläuterte, erwähnte er auch, dass ich eigentlich Schonkost erhalten müsse, dieses aber bei der augenblicklichen Versorgungslage nicht möglich sei. Darauf ordnete der englische Arzt an, dass ich täglich aus der Verpflegungskammer der englischen Besatzungssoldaten Weißbrot erhalten solle. Sein Assistent mußte das sofort notieren. Diese Anweisung wurde auch tatsächlich die nächsten Wochen zuverlässig befolgt.

Ein anderes Ereignis fiel auch noch in diese Zeit. Wir erfuhren, allerdings mehr beiläufig, dass Deutschland kapituliert hatte und damit dieser Krieg nach etwa fünf Jahren und acht Monaten ein Ende gefunden hatte. Dieses eigentlich bedeutsame Ereignis wurde bei uns im Lazarett nur mit geringer Beachtung und wenig Emotionen zur Kenntnis genommen. Unsere augenblicklichen eigenen Probleme beschäftigten uns viel mehr, der Krieg galt bei uns schon lange für verloren und hatte für uns Verwundete im Lazarett schon seit Wochen und Monaten ein Ende gefunden.

Die folgenden Wochen im Mai 1945 verliefen für uns sehr ruhig und wurden nur von kleinen unbedeutenden Begebenheiten begleitet. So kam eines Tages eine englische Kommission, die von Bett zu Bett ging und die Arme heben liess auf der Suche nach eintätowierten Blutgruppen, ein untrügliches Zeichen auf Mitgliedschaft in der ehemaligen Waffen-SS, bei uns allerdings ohne Erfolg. Dann wieder kam eine Nachricht, dass Verwundete, die aus Elsass-Lothringen stammten, sich melden sollten. Ihre vorübergehende deutsche Staatsbürgerschaft - und damit auch die deutsche Wehrpflicht - galt als beendet. Man wollte sie bevorzugt entlassen und in ihre Heimat zurück transportieren, die inzwischen wieder französisch geworden war.

Mein Befinden besserte sich langsam, die Heilung der Wunde machte Fortschritte. Eine Spielleidenschaft hatte meine Zimmerkameraden befallen. Da uns Bücher und auch andere Lesestoffe überhaupt nicht zur Verfügung standen, diese waren von der englischen Verwaltung verboten worden, hatte man uns aus den Beständen der Anstalt mit Gesellschaftsspielen versorgt, hauptsächlich Schachspielen und Spielkarten. Dagegen bestanden seitens der englischen Kommandantur keine Bedenken, da diese nicht nazistisch beeinflusst sein konnten. Nun wurde den ganzen Tag gespielt, nur unterbrochen von den Mahlzeiten. Ab Ende Mai konnte auch ich an Skat und Schachspielen teilnehmen, da meine Mitspieler ihre Stühle an mein Bett rückten und ein weiterer leerer Stuhl uns als Spieltisch diente. Ich konnte mich glücklicherweise wieder drehen und wenden und auch leichte Oberkörperdrehungen ausführen.

Eine Sache behinderte mich doch sehr und drückte auch auf meine Stimmung. Das war der durch eine Fistel perforierte Dickdarm innerhalb meiner zwar langsam aber doch fortschreitend abheilenden Wunde. Diese Fistel, die nach dem Versuch des Zusammennähens des zerschossenen Darms entstanden war, heilte von selbst nicht wieder zu. An dieser Stelle blieb der Darm geöffnet, so dass unkontrolliebar und auch nicht steuerbar Kot austrat. Darum musste die Wunde ständig sorgfältig gereinigt werden. Einer der Oberärzte kam eines Tages auf eine gute Idee. Er ließ von einem handwerklich geschickten Sanitäter einen Rasierbecher für meinen besonderen Fall als Auffangbehälter herrichten. Gegenüberliegend an jeder Außenseite des Bechers wurde ein Henkel aus dickem gebogenen Draht gelötet. Durch diese Henkel wurde ein Stoffband gezogen, der Becher auf meiner Bauchwunde platziert, das Stoffband um meinen Rücken herumgelegt und an der Seite verschnürt. Zum Abdichten und Polstern des Becherrandes wurden aus Zellstoff Ringe ausgeschnitten und damit der Becher auf der Wunde unterlegt. Mir war mit diesem provisorischen Hilfsmittel ganz hervorrragend gedient. Als ich dann etwa Anfang Juni wieder aufstehen konnte und das Gehen wieder langsam gelernt hatte, bediente ich diese Vorrichtung selbst, indem ich den Becher von Zeit zu Zeit auf der Toilette abnahm, entleerte und ausspülte. Zellstoffringe zum Unterlegen hatte ich in großer Menge selbst ausgeschnitten und hatte immer einige bei mir.

Für mich war eine hoffnungsvolle glückliche Zeit angebrochen. Ich konnte, wenn auch langsam und vorsichtig, in dem wunderschönen Park spazieren gehen und hatte das Gefühl, ein neues Leben sei mir geschenkt worden. Wir hatten viel Sonnenschein in diesem Sommer; Bäume und Büsche standen in frischem Grün. Lange Strecken konnte ich noch nicht gehen, aber immer erreichte ich eine der zahlreichen Parkbänke, wo dann auch ein Platz für mich frei war und ich interessante Gespräche mit anderen verwundeten Kameraden führen konnte. Hin und wieder setzte sich auch eine der Diakonissinnen zu uns, die wohl dienstfrei hatte, und beteiligte sich an unseren Gesprächen. Diese Frauen, die meistens nicht mehr in jungen Jahren waren, beeindruckten mich sehr, hatten sie doch gerade in den verflossenen Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft besonders hier bei der Pflege geistesgestörter Menschen die schrecklichsten und unmenschlichsten Erlebnisse gehabt und sich in ihrer liebevollen und anstrengenden Fürsorge für Schwache und Behinderte nicht beirren lassen.

Der Oberstabsarzt, unser deutscher Lazarettkommandant, besuchte uns immer noch oft in unserem Offizierszimmer. Er hatte seine alte Funktion gewissermaßen unter englischem "Oberkommando" behalten und musste, wie er uns erzählte, dem englischen Kommandanten ab und zu Bericht erstatten. Als er eines Tages wieder einmal bei uns zu Besuch war, stellten wir fest, dass er mit offenem Kragen zu uns gekommen war, was eigentlich gar nicht seinem strengen militärischen Ordnungssinn entsprach. Bald erfuhren wir auch den Grund. Eine schon recht kräftige rötliche Schwellung, ein bereits im fortgeschrittenen Stadium befindlicher Furunkel, zierte sein Genick. Nun hagelte es gute Ratschläge unsererseits. "Das muss doch mit einem Schnitt geöffnet werden." "Aber Herr Doktor, solche Kleinigkeit macht man natürlich ohne lokale Betäubung." Diese Empfehlungen spielten natürlich bewusst auf die von ihm bei den Soldaten geübte Praxis in ähnlichen Fällen an. Er wehrte ab mit der Begründung, noch einige Tage zu warten, um die weitere Entwicklung des Furunkels zu beobachten und sich mit einem der Oberärzte zu beraten. Tatsächlich erschien er dann wenige Tage später bei uns, um uns mitzuteilen, dass der Furunkel am Vormittag des nächsten Tages von einem Oberarzt im OP aufgeschnitten werde, selbstverständlich ohne Betäubung. Wir seien alle eingeladen, dem Ereignis beizuwohnen. Wir folgten natürlich dieser Einladung am nächsten Tag. Im OP wurden wir von unserem Oberstabsarzt empfangen; er stand bereits ohne Jacke im Unterhemd in Bereitschaft. Nachdem ihm ein OP-Helfer ein Tuch um beide Schultern gelegt hatte, begann die "Vorstellung". Eine OP-Schwester, die ein Tablett mit Geräten und Verbandszeug in der Hand trug, betupfte die gewisse Stelle im Genick mit einer Flüssigkeit. Bevor der Oberarzt mit seinem Eingriff beginnen konnte, gab ihm der Oberstabsarzt ein Zeichen, dass er noch etwas sagen wollte. Dann hörten wir von ihm folgenden Satz, der bei uns im Offizierszimmer wie ein geflügeltes Wort in lustiger Runde häufig zitiert wurde und der sich mir unvergesslich eingeprägt hat: "Schmerz empfinden ist eine Schande gegenüber der Mutter, die uns geboren hat." Danach stellte er sich breitbeinig mit gebeugtem Nacken vor den Oberarzt und ließ, ohne eine Miene zu verziehen, sein Furunkel aufschneiden. Als ich ihn so in dieser Pose stehen sah, hatte ich den Eindruck, dass er sich jetzt wie ein Held nach gewonnener Schlacht vorkam. Wir Beobachter standen da und sahen mehr amüsiert als bewundernd auf den "Helden" dieser "Vorstellung" und rätselten, wo er diesen hochhehren Satz wohl herhatte oder ob er ihn wohl selbst erfunden hatte.

Es muss wohl Mitte Juni gewesen sein, als ich eines Nachts plötzlich durch lautes Rufen neben mir wach wurde. Ein anderer Zimmergenosse hatte schon das Licht eingeschaltet. Im Bett neben mir lag mein Hildesheimer Freund Kalli Bähre und hielt mit der linken Hand seinen rechten geschienten Arm, der mit einem Stützgestell an der Körperseite fixiert war. Der Verband war rot, und aus ihm lief Blut in das bereits stark rot durchnässte Bett. Ein Kamerad lief sofort aus dem Zimmer, um die Nachtschwester und einen Arzt zu benachrichtigen. Nach einer uns schier endlos erschienenen Zeit kam die Nachtschwester, und mit ihrer Hilfe schoben zwei Kameraden meinen Freund mit dem Bett aus der Tür über die Flure in den wohl inzwischen geöffneten OP. Wie wir hörten, war auch ein Arzt schnell eingetroffen. Nach langem Warten - gewiss einige Stunden - wurde Kalli in seinem wieder hergerichteten Bett zurück in unser Zimmer gebracht. Nun lag er wieder neben mir, und ich hörte ihn leise stöhnen; er war kaum ansprechbar. Sicher war der Blutverlust sehr groß gewesen. Die Schwester berichtete uns, dass man die aufgerissene Ader geschlossen und eine Bluttransfusion vorgenommen hatte.

Am nächsten Tag lag Kalli ruhig und meistens wie abwesend in seinem Bett. Wir sprachen ihn oft an, um ihn abzulenken, aber er zeigte kaum Reaktionen. In der nächsten Nacht wiederholte sich das Aufbrechen der Ader; der Verband war wieder stark durchblutet. Zum Glück hatten wir es früh bemerkt, da immer einer von uns in kurzen Abständen kontrollierte. Wieder wurde er in den OP gefahren und dort versorgt, was ebenfalls wieder lange dauerte. Am darauffolgenden Vormittag wurde er von Sanitätern mit seinem Bett in den OP gefahren, wie wir hörten zu einem operativen Eingriff. Erst am späten Nachmittag brachte man ihn wieder zurück in unser Zimmer. Jetzt erfuhren wir, dass man ihm den rechten Arm weit oberhalb des Ellenbogens amputiert hatte. Er lag neben mir in seinem Bett und war noch nicht wieder bei Bewusstsein. Am späten Abend kam er langsam wieder zu sich und sah mich mit großen Augen an. Seine Worte habe ich nicht vergessen: "Herbert, ist der Arm ab?" Ich nickte nur. Dann war er ganz ruhig und schloss wieder die Augen. Die nächste Nacht haben wir abwechselnd gewacht und ihn beobachtet. Auch die Nachtschwester kam laufend zum Nachsehen. Zum frühen Morgen wurde er sehr unruhig und stöhnte leise. Wir holten gleich die Nachtschwester, die wiederum den Arzt benachrichtigte. Dann sah mich Kalli plötzlich an und sprach leise ein paar kaum verständliche Worte, so dass sich kein Zusammenhang ergab. Ich verstand nur: "… sterben …" Sein Kopf senkte sich etwas seitlich nach vorn. Wir standen ratlos und betroffen an seinem Bett. Inzwischen war auch der Arzt eingetroffen, der nur noch den Tod unseres Kameraden feststellen konnte. Kalli wurde einige Tage später auf dem Friedhof in Rotenburg beigesetzt. Der englische Lazarettkommandant gestattete uns, an der Beisetzung teilzunehmen und ließ uns mit einem britischen Militärwagen zum Friedhof und zurück fahren.

Wenige Wochen später - der Sommeranfang hatte uns sehr schöne Tage geschenkt - hatte meine Beweglichkeit erfreulicherweise deutlich zugenommen. Gerade war ich, von einem Spaziergang kommend, in unsere Toilette gegangen, um meine umfunktionierte Rasierschale abzuschnallen, auszuschütten und sauber zu spülen, als ein Zimmerkamerad draußen vor der Tür stand und mich rief. Ich sollte sofort zurück ins Zimmer kommen, da Besuch für mich da sei. Ich rief nur zurück: "Lass mich in Ruhe. Was sollen die Scherze? Wer soll mich denn hier besuchen?" Darauf die Antwort: "Doch Herbert, dein Vater ist da." Ich konnte es nicht glauben und befestigte schnell wieder meine Hilfsvorrichtung auf dem Bauch, zog mich an und eilte in unser Zimmer. Dort stand wirklich mein Vater neben meinem Bett und unterhielt sich mit einigen meiner Kameraden. Als er mich sah, kam er auf mich zu und umarmte mich. Wir fanden beide erst einmal keine Worte. Dann setzten wir uns auf mein Bett, und mein Vater erzählte.

Meine Mutter und er waren seit Februar in großer Sorge. Sie wussten nicht, was aus mir geworden war. Post und Telefon gingen nicht, Züge fuhren nicht mehr, deutsche Zivilpersonen durften ihre Wohnorte ohne britischen Passierschein nicht verlassen. Als diese Bestimmungen aufgehoben wurden - vor wenigen Tagen - machte sich mein Vater auf den Weg nach Verden, um mich zu suchen. Er benutzte Züge, die meistens nur kurze Strecken fuhren, Güterzüge, Last- und Lieferwagen bis er tatsächlich Verden erreichte. Hier erfuhr er, dass das Lazarett Anfang April verlagert worden war. Über das Schicksal einzelner Verwundeter konnte er nichts erfahren. Da er nicht wusste, ob ich überhaupt überlebt hatte, besuchte er die Abteilung des Verdener Friedhofes, in der verstorbene Soldaten des Lazaretts beigesetzt waren und durfte dort auch die Namensliste einsehen. Da er meinen Namen in den Listen nicht vorfand, schöpfte er Hoffnung und machte sich weiter auf den Weg nach Kirchlinteln und Kirchwaldsede, unseren beiden Zwischenstationen. Auch hier konnte er nichts erfahren und setzte gleich seine Reise fort nach Rotenburg, wo er heute eintraf. Die englische Torwache hatte ihn zuerst in das Verwaltungsgebäude geführt, wo man in der Liste nachsah, meinen Namen fand und ihn dann zu uns brachte. Die englische Kommandantur wies ihm sogar in Zusammenarbeit mit der deutschen Verwaltung ein Bett an und organisierte auch die Teilnahme an unserer Verpflegung. Zwei Tage blieb mein Vater bei mir und verabschiedete sich dann mit der Absicht, meine Verlegung nach Hildesheim zu organisieren. Er hatte nämlich erfahren, dass für mich noch eine wichtige Operation anstand, nämlich eine Resektion des Darmes zum Zwecke der Zusammensetzung beider Enden. Wir wussten beide, dass in meiner Heimatstadt Hildesheim in der Chirurgie des Städtischen Krankenhauses einer der international bekannten Bauch-Chirurgen, Professor König, als Chefarzt tätig war, und sein erster Assistent war der Sohn eines Kollegen meines Vaters. Diese Verbindung sollte ihm helfen.

Es vergingen die nächsten Wochen in der üblichen Eintönigkeit unseres Lazarettlebens. Inzwischen hatten sich einige Soldaten zu einer Kabaretttruppe zusammengefunden, Stücke und Sketche geschrieben und einstudiert, die nach Überprüfung durch die englische Kommandantur freigegeben wurden. Eine kleine Freilichtbühne wurde im Park aufgebaut, und die Vorstellungen liefen, eine mit Begeisterung aufgenommene Abwechslung.

Die Anzahl der Soldaten im Lazarett verminderte sich ständig. Jede Woche fuhr einmal ein Transport mit ausgeheilten Verwundeten in eines der in der weiteren Umgebung befindlichen Kriegsgefangenenlager. Hier sollten sie dann ihre Papiere erhalten und entlassen werden. Die Stimmung der Betroffenen war sehr unterschiedlich. Das Lazarett war für viele nach der langen Zeit fast so etwas wie eine Heimat geworden, in der sie sich einigermaßen umsorgt und sicher aufgehoben fühlten und auch viele menschliche Kontakte gefunden hatten. Jetzt wussten sie nicht, was sie erwartete. Außerdem war mancher darunter, der nicht wusste, ob er in seine Heimat zurückkehren konnte, da es entweder die russische Besatzungszone war oder gar das Gebiet, das weit im Osten liegt und nun zu Polen, Russland oder der Tschechoslowakei gehört. Sie hatten meistens keine Nachrichten von ihren Angehörigen, und die Zukunft erschien ihnen ungewiss. So waren die Abschiede von unseren Kameraden, die zur Entlassung in Kriegsgefangenenlager gefahren wurden oft von einer bedrückten Stimmung überlagert und auch dem Gefühl, dass wir uns wohl kaum einmal wiedersehen werden. So ist es mir auch tatsächlich ergangen. In den nun fast 60 verflossenen Jahren seit jener Zeit habe ich keinen einzigen meiner damaligen Kameraden wiedergesehen, auch von keinem etwas gehört.

Inzwischen war die Postzustellung in der britischen Besatzungszone, zu der wir gehörten, wieder in Gang gekommen, wenn auch langsam und unzuverlässig. Ich erhielt Nachricht von meinen Eltern, dass sie sich intensiv bemühten, meine Abholung zu organisieren. Eine eventuelle Unterbringung im Städtischen Krankenhaus war schon erkundet und abgesprochen. Dort war eine separate Lazarettabteilung für verwundete deutsche Soldaten unter englischer Leitung und Bewachung eingerichtet, in der auch Bauchverletzte von Professor König betreut und operiert wurden.

Eines Tages im Juli war es dann soweit. Meine Eltern waren schon morgens früh mit einem Sanitätswagen der Hildesheimer Polizei in unserem Lazarett eingetroffen. Das war ein freudiges Wiedersehen mit meiner Mutter, die ich fast ein Jahr nicht mehr gesehen hatte. Mein Vater hatte es tatsächlich geschafft, ein Fahrzeug mit Fahrer und das notwendige Benzin für die Fahrt zu besorgen. Der neue deutsche Kommandeur der Hildesheimer Polizei, der ein Bekannter unserer Familie war, hatte ihm dabei ganz wesentlich geholfen. Nun tat sich plötzlich doch noch eine Schwierigkeit auf. In der englischen Lazarett-Kommandantur hatte man Bedenken, mich als noch kriegsgefangenen Offizier frei und ohne Bewachung abreisen zu lassen. Es gelang mir, den Lazarettkommandanten persönlich zu sprechen. Ich versicherte ihm, dass ich mit noch offener Bauchwunde und in Anbetracht weiterer dringend notwendiger Behandlung und Operation mich in Hildesheim im englischen Kriegsgefangenenlazarett melden werde. Darauf gab ich ihm mein Ehrenwort und bat um eine Bescheinigung für die Aufnahme in dem Hildesheimer Lazarett. Nun war er bereit und genehmigte meine Abreise. Die Freude bei meinen Eltern und mir war groß. Ich brauchte nur noch meine Sachen einzupacken, was in Anbetracht des geringen Umfangs kaum Zeit erforderte. Schwer fiel mir der Abschied von meinen Kameraden im Offizierszimmer. Auch von unserem Oberstabsarzt verabschiedete ich mich; er hatte noch schnell für einen kurzen Krankenbericht zur Weitergabe an die Hildesheimer Ärzte gesorgt. Dann starteten wir gleich nach dem Mittagessen zu unserer Reise. Obwohl mich eine große Unruhe und Ungeduld während der gesamten Fahrt befiel, war diese Reise von etwa 150km eine meiner glücklichsten in meinem Leben. Nachdem wir am späten Nachmittag in meinem Elternhaus in Hildesheim eingetroffen waren, entschloss ich mich, noch den Abend und die Nacht hier zu bleiben und mich erst im Laufe des nächsten Tages im Lazarett zu melden. Meine Eltern und ich hatten viel zu erzählen.

Am nächsten Vormittag, es war der 16. Juli 1945, begab ich mich dann in das Lazarett im Städtischen Krankenhaus. Nachdem alle Formalitäten im Büro erledigt waren, brachte man mich in die für mich zuständige Station, wo mir die Stationsschwester ein Einzelzimmer zuwies. Die Begrüßung war sehr nett und freundlich; ich fühlte mich hier gleich gut aufgehoben. Von englischer Besatzung war kaum etwas zu sehen, und ich hatte gar nicht das Gefühl, als Kriegsgefangener hier zu sein; alles wirkte sehr zivil.

Am nächsten Morgen erlebte ich die erste Arztvisite mit Professor König, der mir andeutete, dass die vorgesehene Operation etwa in zwei Wochen stattfinden werde. Danach würde auch das Leben für mich wieder angenehmer werden. So geschah es dann auch. Ich durfte zwei Tage vor dem Eingriff nichts mehr essen und erhielt dreimal täglich drei Löffel Rizinusöl und täglich einen Einlauf, um den Darm für die Operation zu reinigen. Der Eingriff verlief ohne Komplikationen. Ich erinnere mich nur noch, dass ich nachmittags in meinem Zimmer wieder wach wurde. Eine Schwester teilte mir mit, dass ich nun drei Tage nicht essen dürfe. Dafür erhielt ich wieder eine Traubenzuckerinfusion. Zum Abend kam dann die Nachtschwester in mein Zimmer mit einem Spritzbesteck auf einem Tablett. Sie hatte den Auftrag, mir eine Morphiumspritze zu geben, damit ich eine ruhige schmerzfreie Nacht verbrächte. Ganz entschieden lehnte ich das aber ab, weil meine Erfahrung mit Morphium mir noch in unangenehmer Erinnerung war. Ich schlief die Nacht auch ohne Morphium und hatte kaum Schmerzen.

Meine Genesung schritt in den nächsten Wochen gut voran. Wie Professor König mir angekündigt hatte, waren meine Lebensumstände durch den Fortfall der Auffangvorrichtung auf meiner Bauchwunde mit den laufenden umständlichen Bedienungsverrichtungen, dem lästigen Geruch und der Behinderung der Bewegungsmöglichkeiten erheblich angenehmer geworden. Ich war froh und glücklich. Meine noch nicht abgeheilte und nicht ganz geschlossene Bauchwunde konnte jetzt mit einer zwar großen aber weniger lästigen Verbandsabdeckung verklebt werden.

Sehr oft machte ich Besuche bei meinen Eltern. Den nicht gerade kurzen Weg dahin konnte ich allein und zu Fuß bewältigen. Viele meiner alten Bekannten und ehemaligen Klassenkameraden, sofern sie noch lebten und schon wieder zurückgekehrt waren, kamen zu Besuch. Wir tauschten Erinnerungen und unsere Kriegserlebnisse aus und machten Pläne für die Zukunft.

Vor dem Tor des Städtischen Krankenhauses stand ein englischer Soldat als Posten. Wir Verwundete, die eine ganze Krankenstation einnahmen, waren ja immer noch Kriegsgefangene. Aber davon spürten wir nichts. Beim Passieren des Tores nickte mir der englische Posten freundlich zu und ließ mich durchgehen.

So verging der gesamte August und auch noch die erste Hälfte des Septembers 1945 für mich in diesem Lazarett in meiner Heimatstadt Hildesheim in durchweg angenehmer Weise. Mein Körpergewicht, das bei der Einlieferung knapp 60 kg betrug, nahm wieder zu und damit auch mein Befinden und meine Widerstandskraft. Die Bauchwunde war fast vollständig geschlossen, nur ein kleines Stück war noch nicht verheilt und musste weiterhin mit Verbandsstoff und Pflaster verklebt werden. Es hatte sich aber auf einem großen Teil der Narbe nur eine dünne Heilhaut über den Rippen gebildet, und der Arzt empfahl mir große Vorsicht, keine körperliche Anstrengung und kein Heben von schweren Gegenständen. Das ließ sich alles auch recht gut befolgen.

Am 23. September 1945 erhielten wir am frühen Abend die Nachricht, dass diese Lazarettabteilung am nächsten Tag aufgelöst würde und die weitgehend ausgeheilten Verwundeten - zu denen auch ich gehörte - zur Entlassung in das Kriegsgefangenenlager Munsterlager in der Lüneburger Heide gefahren würdem. Wir sollten uns am nächsten Morgen um 6 Uhr früh mit unseren Sachen zur Abholung bereit halten. Daraufhin packte ich meine wenigen Habseligkeiten, die ich in meinem Zimmer hatte, gleich zusammen und brachte sie noch zu meinen Eltern, damit ich am nächsten Tag nicht mit Gepäck belastet war. Wir rechneten alle damit, dass wir nach Erledigung der Entlassungsformalitäten gleich wieder zurückgefahren würden. Ähnliches hatte man uns auch angedeutet.

Tatsächlich pünktlich um 6 Uhr früh am 24. September stand ein englischer Militär-LKW mit festen Bänken auf der Ladefläche und darüber einer Plane vor unserer Station. Ein englischer Fahrer und zwei bewaffnete englische Soldaten, die uns beim Besteigen des LKW’s behilflich waren, begleiteten uns als Wache auf unserer Fahrt nach Munsterlager. Nach gut zweistündiger Fahrt kamen wir an unserem Ziel an, fuhren durch ein großes bewachtes Tor in den Lagerbereich und mussten aussteigen. Der LKW fuhr wieder zurück an das Lagertor. Wir standen in der Heidelandschaft, umgeben von vielen gefangenen deutschen Soldaten, die uns neugierig beguckten, und wussten nicht, was nun weiter mit uns geschehen würde. Wir erkundigten uns bei den anderen Gefangenen, deren unrasierte Gesichter und Bärte auf schon längere Anwesenheit in diesem Lager schließen ließen. Da erfuhren wir, dass die Abfertigung und Ausstellung der Entlassungspapiere viele Tage dauern könne, und erst danach erfolge dann der Rücktransport. Wir sollten uns schon hier in der Heide nach Schlafmöglichkeiten unter freiem Himmel umsehen, denn die im Gelände stehenden arg demolierten Holzbaracken könnten sie nicht empfehlen, da sie total verwanzt seien. Die Namen der zur Abfertigung anstehenden Gefangenen würden immer über Lautsprecher aufgerufen, und diese müssten sich dann bei der Kommandantur einfinden. So sah es also für uns aus. Das entsprach überhaupt nicht unseren Erwartungen. Wir aus Hildesheim eingelieferten ehemaligen Verwundeten - ich glaube wir waren 11 Leute - berieten miteinander und beschlossen, bei der englischen Kommandantur vorstellig zu werden. Da ich der einzige ehemalige Offizier unserer Gruppe war, baten sie mich, die mögliche Verhandlung zu führen, während sie draußen vor dem Gebäude warteten. Ich wurde mit einem Begleiter aus unserer Gruppe von einem englischen Posten in einen Raum geführt und musste erst einmal warten. Dann erschien ein Dolmetscher und ließ sich unser Anliegen erklären. Darauf führte er uns in einen anderen Raum, in dem ein englischer Offizier, offensichtlich Mitglied der Kommandantur, und einige andere englische Soldaten saßen. Ich wurde aufgefordert, unser Anliegen vorzutragen, das der Dolmetscher übersetzte. Ruhig hörte sich der Offizier an, dass wir ohne weitere Information als Verwundete wegen der Auflösung des Lazaretts Hildesheim, zum Teil noch mit nicht abgeheilten Wunden, heute früh zur Entlassung nach hier transportiert wurden. Einige von uns benötigten noch weitere ärztliche Betreuung. Der Offizier ließ sich die aus Hildesheim mitgelieferten Papiere und Unterlagen aus einem anderen Büroraum bringen. Er blätterte in den Papieren und las auch in einigen. Ich verstand nur den Satz: "These men can go with the next car." Wir mussten unsere draußen wartenden Kameraden holen und wurden alle in einen anderen großen Raum geführt. Unsere Entlassungspapiere wurden umgehend ausgefertigt. Wir waren erleichtert und in bester Stimmung. Was hatten wir für ein Glück gehabt!

Wir gingen sofort zum Lagertor. Dort standen noch mehrere LKW’s, die entlassene Gefangene in die verschiedenen Richtungen, ihrer Heimat entgegen, transportieren sollten. Darunter war auch ein LKW, der nach Ochtersum bei Hildesheim fahren sollte. Dort befand sich damals ein Sammellager der britischen Armee zur vorübergehenden Aufnahme heimkehrender deutscher Soldaten. Bei dem LKW standen schon einige wartende Entlassene, die wohl in diese Richtung fahren wollten. Wir gesellten uns, ausgerüstet mit den wichtigen notwendigen Papieren, zu ihnen und warteten. Es hieß, wir würden in etwa einer Stunde fahren; wir warteten aber bestimmt die doppelte Zeit. Dann kamen zwei englische Soldaten, kontrollierten unsere Entlassungspapiere, und wir konnten den LKW besteigen.

Die Rückfahrt nach Hildesheim begann. Ich hatte unterwegs bei einem kurzen Halt den englischen Fahrer überredet, bei der Durchfahrt durch Hildesheim mich doch aussteigen zu lassen, da das mein Heimatort sei und ich nicht noch eine Nacht im Lager Ochtersum verbringen wollte. Er hatte es mir zugesagt und mir empfohlen, mich auf die hinterste Bank zu setzen. Er würde am Hauptbahnhof kurz stoppen und mir ein Zeichen geben. Dann könnte ich schnell aus dem Wagen steigen. So geschah es auch.

Am späten Nachmittag des 24. September 1945 stand ich auf dem Bahnhofsplatz meiner Heimatstadt als freier Mann. Ich konnte es noch gar nicht fassen. Langsam schlenderte ich die Bahnhofsallee entlang. Die Häuser beiderseits der Straße waren Trümmerhaufen. Die Stadt war durch zahlreiche Luftangriffe, bei denen ganze Bombenteppiche auf die Innenstadt niedergingen, fast vollständig zerstört. Dann bog ich in die Bismarckstraße ein und kam an der Ruine der Bahnhofsschule vorbei. Hier war ich 1930 eingeschult worden. Viele wehmütige Gedanken gingen mir durch den Kopf, und Erinnerungen an alte Klassenkameraden tauchten auf. Was mochte aus ihnen geworden sein? Ich setzte meinen Weg fort zu meinem Elternhaus und hatte das seltsame Gefühl, irgendetwas hinter mir zu lassen. Vielleicht war es die unbewusste Ahnung, dass am heutigen Tag ein Abschnitt meines Lebens zu Ende gegangen war, dessen Erlebnisse und Erfahrungen mein weiteres Leben deutlich und nachhaltig beeinflussen würden.





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