Hermsdorf - Verden





III
Hauptverbandsplatz Hermsdorf - Morphiumspritzen - im Güterwagen nach Heiligenbeil - Pferdewagen nach Rosenberg - über das Haff nach Pillau - Behelfslazarett - durch die Danziger Bucht nach Danzig - über Lübeck nach Verden


Von diesem Zeitpunkt an habe ich keine Erinnerungen mehr, wahrscheinlich bekam ich gleich eine Narkose. Ich kam wieder zu mir, als es noch recht dunkel war, vielleicht zum Ende der Nacht oder am frühen Morgen. Der Raum – wahrscheinlich ein ehemaliges Klassenzimmer – war von einer Petroleumlaterne schwach beleuchtet, ich lag auf einem bezogenen Lager auf dem Fußboden. Neben mir und auch mir gegenüber lagen verwundete Soldaten, die zum Teil sehr unruhig waren und stöhnten, offensichtlich einige auch frisch operiert. An der Wand neben der Tür saß auf einem Stuhl ein wachhabender Sanitäter. Ich spürte, daß mir etwas um den Hals gebunden war. Wie ich erst später herausbekam, hatte man mir das aus der Bauchhöhle entfernte aufgeborstene Geschoß wohl als "Andenken" in eine Mullbinde eingeknotet um den Hals gehängt.

Ich verspürte einen furchtbaren Durst und sah im Dämmerlicht eine große Kanne unter dem Stuhl des Sanitäters stehen. Auf mein Rufen kam er zu mir. Als ich um Wasser bat, fuhr er mich fast an: "Du darfst nichts trinken, du hast einen Bauchschuß." In dem Raum war es inzwischen sehr unruhig geworden. Stöhnende und wimmernde Verwundete riefen nach dem Sanitäter und erhielten Spritzen. Ich entdeckte neben mir auf meinem Lager ein zusammengefaltetes Stück Papier. Als es heller geworden war, entfaltete ich es und las es. Es war der ärztliche Befund und Bericht, der jeden verwundeten und auf dem Hauptverbandsplatz versorgten Soldaten zum Zwecke der Information und weiteren Behandlung bis zum Heimatlazarett begleitet; ich kannte das schon von früheren Verwundungen 1943. Ich entnahm dem Befund, daß mein Bauch eine etwa 25 cm breite klaffende Schußwunde aufwies. Zahlreiche Rippen waren durch das Explosivgeschoß zersplittert, ein etwa 2 cm breiter Streifen von der Leber abgerissen und der Dickdarm verletzt. Man hatte das aufgeborstene Geschoß aus dem Bauch entfernt, eine geronnene Blutschicht aus der Bauchhöhle beseitigt und mir eine Bluttransfusion gegeben. Jetzt wußte ich, wie es mit mir aussah.

Meine Erinnerungen an den weiteren Verlauf sind sehr lückenhaft, da ich wohl häufig ohne Besinnung war und ein weiterer hier beginnender Umstand mich zeitweilig hinderte, meine Umwelt noch genau wahrzunehmen. Ich hatte oft heftige Schmerzen und immer Durst und rief nach dem Sanitäter, der auch kam und nach mir sah. Dann verschwand er und kam mit einer Spritze und Ampulle zurück und gab mir eine Injektion in den Oberschenkel. Es setzte darauf dieser Zustand ein, den ich in den nächsten Wochen noch sehr häufig erleben sollte. Mein Bewußtsein und damit auch die Schmerzen schwanden, wahrscheinlich schlief ich auch ein. Zeitweilig hatte ich das Gefühl, völlig schwerelos zu schweben; ich weiß nicht wie lange dieser Zustand anhielt. Jedenfalls war mir auf diese Weise geholfen - auch Sanitäter und später Rotkreuz-Schwestern hatten erst einmal Ruhe.

Im Laufe des Tages hörte ich, wenn die Tür geöffnet wurde, verschwommen aus der Ferne grollenden Geschützdonner. Die Front konnte also nicht sehr weit entfernt sein. Auch bei uns wurde es zunehmend unruhiger. Sanitäter und gehfähige leicht verwundete Soldaten liefen geschäftig hin und her. Es mochte schon später Nachmittag sein, als man begann uns Verwundete auf Tragen nach draußen zu tragen. Als ich draußen ankam, sah ich in der Dämmerung auf der Straße einige Leiterwagen stehen, die mit Stroh aufgefüllt waren. Auf diese wurden wir Schwerverwundete gelegt. Dann schoben und zogen Sanitäter und Leichtverwundete die Wagen die Dorfstraße entlang zum Bahnhof des Dorfes. Hier lud man uns um in einige mit Stroh ausgelegte geschlossene Güterwagen. Wie wir hörten, war es gelungen, eine Lok wieder in Betrieb zu nehmen, um mit zwei oder drei Güterwagen, beladen mit Verwundeten, in Richtung Heiligenbeil ans Haff zu fahren. Von hier aus könne man uns per Schiff über das Haff nach Pillau und von dort durch die Ostsee in Richtung Heimat transportieren.

Versehen mit einer weiteren Morphium-Spritze landete ich – nicht mehr bei voller Besinnung – mit vielen anderen Verwundeten in einem Güterwagen auf Stroh gelegt. Als ich wieder zu mir kam, fuhren wir bereits. In dem unruhig rumpelnden Wagen war es dunkel. Nur eine Stalllaterne neben einem auf dem Boden sitzenden Sanitäter in der Nähe der geschlossenen Schiebetür beleuchtete die gespenstische Szenerie. Einige leichter verwundete Soldaten konnte ich in dem schwachen Licht mit verbundenen Köpfen oder Armen auf dem Stroh sitzend erkennen. Wir fuhren die ganze Nacht, oft unterbrochen von sehr langen Pausen, in denen wir vom Sanitäter – soweit möglich – versorgt wurden, was für die Wimmernden und Stöhnenden in der Regel eine weitere Spritze gegen die Schmerzen bedeutete.

Wir hörten, daß die Pausen meistens durch zugefrorene Weichen entstanden, die erst per Hand mit primitiven Werkzeugen bei eisiger Kälte umgestellt werden konnten, was von fachkundigen Leichtverwundeten besorgt wurde. Die Strecke von Hermsdorf bis Heiligenbeil betrug etwa 40 km, wie uns gesagt wurde. Soweit ich mich erinnern kann, benötigten wir dafür noch den ganzen nächsten Tag und die darauffolgende Nacht. Wir trafen also nach etwa zweitägiger Fahrt im Laufe des Tages bei Helligkeit in Heiligenbeil ein. Unser Zug hielt nicht auf dem Bahnhof, sondern irgendwo auf freier Strecke am Ortsrand neben einer Straße. Hier standen einige Zeit nach unserer Ankunft wieder Fuhrwerke, diesesmal mit Pferden bespannt, zu unserer Abholung bereit. Erstaunt war ich, Zivilbevölkerung zu sehen. Ältere Männer und auch Frauen luden uns aus den Güterwagen um auf die Pferdewagen und fuhren uns in eine Schule, die als Hilfslazarett eingerichtet war.


Flüchtlinge aus Ostpreußen auf Pferdewagen, 1945

Ein Arzt und auch einige Rotkreuz–Schwestern versorgten uns. Ich lag in einem Bett! Mein Zustand war furchtbar: Schmerzen, Durst und oft schwindendes Bewußtsein. Noch am gleichen Tage bekam ich neue Verbände und wurde, so gut es ging, im Gesicht und am Oberkörper gewaschen und mit frischer Unterwäsche versorgt. Auch meine vom Geschoß zerrissene und mit viel angetrocknetem Blut verschmutzte Uniformjacke wurde durch eine andere Jacke ersetzt.

Nach einer Nacht, an die ich keine Erinnerung mehr habe, wurde ich am nächsten Morgen schon sehr früh zusammen mit anderen Verwundeten wieder auf Pferdewagen von alten Männern und Frauen geführt auf einer holprigen verschneiten Straße zu dem etwa 5 km entfernten Rosenberg, dem Hafen am Haff, gefahren. Dort wurden wir auf ein kleines Schiff geladen, das auch bald mit uns abfuhr. Wie man uns erzählte, hatte ein Eisbrecher eine Fahrrinne von Rosenberg nach Pillau, an der anderen Seite des Haffs, freigelegt. Wir kamen auch bald dort an und wurden gleich am Kai ausgeladen und wieder in ein Behelfslazarett in Holzbaracken direkt am Kai getragen. Ich lag hier wieder in einem bezogenen Bett mit einem Fenster daneben und hatte so einen Blick auf die Hafenanlagen.



Ein junger Arzt kümmerte sich als erster um mich. Er ließ sich von mir alle meine Erlebnisse vor und nach meiner Verwundung berichten. Dann öffnete er meinen Verband, reinigte Wunde und Wundränder von verschmiertem und angetrocknetem Blut und legte mit Hilfe einer Schwester einen neuen Verband an, nachdem er auch reichlich mit Desinfektionsflüssigkeit gearbeitet hatte. Ich kam mir frisch und wie neugeboren vor, kein süßlicher abstoßender Gestank nach Blut und Wundabsonderungen. Ich klagte über furchtbaren Durst. Der Arzt wiederholte, was ich schon so oft gehört hatte: "Du hast einen Bauchschuß und darfst vorerst nicht trinken." Gegen Abend kam er wieder und gab mir als erstes eine intravenöse Traubenzucker–Injektion zur Stärkung. Ich hatte seit dem 8. Februar, also seit etwa 5 Tagen, weder essen noch trinken dürfen, allerdings auch nicht den geringsten Hunger verspürt; aber der Durst wurde immer unerträglicher. Als ich wieder um ein Getränk bettelte, sagte mir der Arzt: "Ich will dir helfen, aber du mußt mir versprechen, meine Anweisung genau zu befolgen." Dann verschwand er und kam nach kurzer Zeit mit einer angebrochenen Sektflasche und einer Mullbinde wieder. Er sagte: "Ich tränke jetzt diese aufgerollte Mullbinde mit Sekt und lege sie auf deine Lippen. Dann kannst du daran saugen, aber versprich mir, sie nicht runterzuschlucken!" Ich versprach es. Er goß etwas von dem Sekt auf die Mullbinde und legte sie mir auf den Mund; ich saugte begierig. Mit Sicherheit konnte nicht die geringste Flüssigkeitsmenge überhaupt meinen Magen erreichen. Mit Pausen dazwischen wiederholte er diese Prozedur noch einigemale. Es war jedesmal ein herrliches Gefühl.

Da es mir die folgenden Tage meistens sehr schlecht ging und ich gegen die Schmerzen des öfteren Morphium-Spritzen erhielt, konnte ich die Tage und Nächte nicht zählen und weiß also nicht wie lange ich in Pillau war. Ich hörte nur und sah auch manchmal durch mein Fenster, daß täglich Schiffe abfuhren in die Ostsee wohl in Richtung Norddeutschland.


Pillau: Hafen und Flüchtlinge, 1945

Sie waren voll besetzt mit vielen Frauen und Kindern – wohl aus Königsberg – und verwundeten Soldaten. Wir befanden uns ja hier in Pillau zusammen mit Königsberg in dem nördlichen Kessel. Die Rote Armee hatte Ostpreußen durch den schnellen Vorstoß in einen nördlichen und einen südlichen Kessel geteilt. Meine Hoffnung war groß, nun auf dem Seewege durch die Ostsee zurück in die Heimat zu gelangen. Bei seinen laufenden Besuchen bestärkte mich der Arzt in dieser Hoffnung und sagte, er werde dafür sorgen, daß ich auf eines der nächsten Schiffe mit verladen würde.

Schließlich nach einigen unerträglichen Tagen des Wartens, der Schmerzen und der Ungewißheit war es endlich soweit. Ich wurde auf einer Trage an den Kai gebracht. Dort lagen schon einige andere Verwundete neben der Bordwand eines Schiffes. Außerdem standen Frauen mit Kindern und ältere Männer umher, die offensichtlich von Feldjägern (Militärpolizei) und Marinesoldaten kontrolliert wurden. Sie gehörten wohl zu den Glücklichen, die einen Schiffsplatz zugewiesen bekommen hatten und so das eingezingelte Königsberg und Umgebung verlassen konnten. Neben dem Schiff stand eine große Holzplattform, aus Balken zusammengefügt wie ein Floß, die mit Seilen an dem Hebebaum des Schiffes befestigt war. Auf diese Plattform legte man uns Verwundete – ich schätze uns auf etwa sechs – und auf ein Kommando hob man uns in die Lüfte, schwenkte und ließ uns in den Schiffsrumpf hinunter. Hier wurden wir von Marinesoldaten von der Plattform gehoben und zwischen Gerätschaften und mir unbekannten Gegenständen auf ein Lager von Lumpen gebettet. Zwischen vielen Verwundeten hockten und lagen zahlreiche ostpreußische Flüchtlinge. Auch einige Rotkreuz–Schwestern mit Sanitätstaschen und Sanitätsmaterial waren zur Betreuung der Verwundeten dabei. Eine der Schwestern gab mir gleich wieder wegen meiner Schmerzen und zur Beruhigung die übliche Spritze.

Als ich munter wurde, war es dunkel. Ich hörte und spürte am rhytmischen Zittern und Rattern, daß das Schiff wohl auf Fahrt war. Unbeschreibliche Zustände in meiner Umgebung nahm ich wahr: stöhnende Verwundete, schreiende Kinder und weinende Mütter. Wie spät mochte es sein? Erst als durch die Öffnungen zum Oberdeck Tageslicht einfiel, sah ich zu meiner Armbanduhr; es war früher Vormittag.

Plötzlich gab es einen Stoß, die Schiffsmaschinen standen still. Eine lange Zeit tat sich gar nichts. Viele Flüchtlinge bekamen Angst und wurden unruhig. Durch die weit geöffneten Schotten zum Oberdeck rieselten Schneeflocken auf unsere Decken und durchfeuchteten diese, da sie schnell auftauten. Dann wieder ein Stoß und ein Zittern, die Maschinen sprangen an, wir setzten die Fahrt fort. Nach kurzer Zeit liefen wir einen Hafen an - es war Danzig. Große Enttäuschung bei allen, da wir damit gerechnet hatten, nach längerer Fahrt einen mecklemburgischen oder schleswig-holsteinischen Hafen anzulaufen, um so der Ostfront doch erheblich ferner zu sein. Nun waren wir nach kurzer Fahrt von Pillau durch die Danziger Bucht nach Danzig gefahren. Der Einkesselung in Ostpreußen waren wir entronnen.

Gleich im Hafen wurden wir wieder mit dem kranartigen Hebebaum ausgeladen und nur wenige Schritte weiter in eine der großen Kaihallen transportiert und dort auf Stroh in unmittelbarer Nähe des Eingangstores niedergelegt. Hier war es unangenehm kalt und zugig; aber unsere Träger waren wohl zu bequem, uns weit in das Innere der mit vielen Verwundeten belegten Halle zu tragen. Das sollte sich für mich noch als Vorteil erweisen. Ich lag noch nicht lange, da kamen wieder Sanitäter und andere Soldaten mit Tragen. Gleich am Tor fingen sie an, die ersten, zu denen auch ich gehörte, auf die Tragen zu packen und nach draußen zu bringen; hinter uns Schreien und Schimpfen der Verwundeten, die sicher schon länger hier lagen aber unglücklicherweise nicht in unmittelbarer Nähe des Tores. Draußen auf den Geleisen am Kai stand ein moderner Lazarettzug, eingerichtet mit jeweils zwei Betten übereinander an jeder Abteilseite. Ich bekam als Schwerverwundeter ein unteres Bett – weiß bezogen. Völlig entkräftet und mit großen Schmerzen lag ich auf dem Rücken. Das war die einzige Position, in der ich überhaupt liegen konnte und die ich – was ich damals noch nicht ahnte – noch etwa vier Monate einnehmen mußte.

Nach einiger Zeit kamen ein Arzt und eine Schwester zu einer Visite. Da meine Schmerzen so unerträglich waren, bekam ich wieder eine Spritze. Ich fiel gleich danach in einen schlafähnlichen Zustand. Als ich munter wurde, war es wohl schon lange Zeit dunkel und der Zug fuhr; ich weiß nicht, wann er in Danzig abgefahren war. Ich weiß auch nicht, wieviele Tage wir unterwegs waren. Oft bekam ich Spritzen, häufig war ich ohne Besinnung. Jedenfalls erfuhr ich, daß wir entlang der deutschen Ostseeküste fuhren in Richtung Westen. Über Lübeck bog dann der Lazarettzug in südliche Richtung. Ich wurde dann in Verden an der Aller ausgeladen und in das Lazarett im Dom-Gymnasium gefahren. Es muß nach meiner späteren Berechnung wahrscheinlich der 26. Februar 1945 gewesen sein.

Alle diese letzten Ereignisse habe ich kaum noch in meiner Erinnerung, da ich fast immer ohne Besinnung war.

Ich besitze noch das Original des Telegrammes, das meine Eltern am 1. März 1945 vom Lazarett in Verden erhielten. Wie ich später erfuhr, war mein Zustand so bedenklich, daß die Ärzte damit rechneten, ich würde nicht mehr überleben.


Wilhelm Wille   Trifteckerstr. 7   Hildesheim
"Ihr Sohn mit e[i]ner schweren Verwundung 
im ResLaz  Verden Aller eingeliefert  
Kommen erwuenscht  =  Chefarzt"