Moritten - Hermsdorf





II
Moritten - Besetzung der Stellungen - Flucht der Kameraden - Feuerstoß - Bauchschuss - Rettung durch Fluchthelfer - Hauptverbandsplatz Hermsdorf


Der hin und wieder aus den Wolken hervorsehende Mond, dessen Licht noch durch den Schnee reflektiert wurde, ermöglichte uns trotz der nächtlichen Stunde noch eine schwache Sicht. Wir konnten die Häuser des Dorfes erkennen und gewannen auch einen Eindruck von der Landschaft. Von der Nordseite her, der gleichen Richtung aus der wir vielleicht den Feind erwarteten, hatten wir Moritten erreicht. Aus unserer Lagebesprechung beim Stab und dem Studium einer Karte wußte ich, daß etwa ein Kilometer südlich des Dorfes ein größeres Waldgebiet lag, das sich etwa sechs Kilometer in südliche Richtung erstreckte. Moritten lag also in einer welligen Feld- und Weidelandschaft, die von Feldwegen — teilweise mit seitlichen Busch- und Heckenrändern — durchzogen war, die wohl alle zum Dorf führten.

Wir waren also ungefähr 40 Mann, zusammengewürfelt aus vier verschiedenen Kompanien. Unsere Verteidigungsstellung mußten wir in einem Bogen nördlich vor Moritten einrichten, die linke und die rechte Flanke blieben offen. Ich hatte mir ausgerechnet, daß diese Stellung etwa 250 Meter vor dem Dorf in dem welligen Gelände ungefähr 300 bis 350 Meter Breite einnehmen würde. Ich wollte immer jeweils zwei Soldaten zusammenlegen. Zwischen den einzelnen Zweiergruppen konnten je nach Gegebenheiten der Sicht und der Deckung im Gelände 15 bis 20 Meter Abstand sein.

Bevor wir an die praktische Durchführung gingen, besprach ich mit meinen Leuten noch wichtige Einzelheiten. Jede Zweiergruppe sollte sich, so gut es das Gelände erlaubte, eine Deckung suchen oder in den Schnee buddeln und zur Feindseite gut tarnen. Eingraben war wegen des gefrorenen Bodens, fehlenden Gerätes und der knappen Zeit nicht möglich. Niemand sollte im Falle eines Angriffs nervös werden und frühzeitig schießen; erst auf mein Kommando werde das Feuer eröffnet. Bei Einbruch der Dunkelheit würde ich dann den Befehl zum Rückzug geben. Als Sammelpunkt legten wir ein Haus am Rande des Ortes bei einem einmündenden Feldweg fest.

Inzwischen war die Dunkelheit schon etwas gewichen, es war heller geworden und die Sicht besser. Ich machte mich mit meinen Leuten auf den Weg, und wir besetzten wie geplant unsere Stellungen. An der westlichen Seite fingen wir an. Wir waren alle durchgefroren und müde. Nach kurzer Zeit kam ich mit den letzten beiden an der Ostseite unserer Stellung an und postierte sie dort. Die erste wichtige Arbeit war geschafft. Ich hatte die Absicht, mich etwa in der Mitte unserer Verteidigungslinie in einer guten Deckung zu postieren und machte mich auf den Weg in diese Richtung. Es war inzwischen hell geworden. Als ich ungefähr gut 100m gegangen war, meinen geplanten Platz aber noch nicht erreicht hatte, hörte ich plötzlich aus weiter Ferne – nämlich aus nördlicher Richtung – das wohlbekannte Motorengeräusch russischer Panzer, die aber noch ein sehr großes Stück entfernt sein mußten. Schnell rief ich meinen Leuten, die das auch gehört haben mußten, nach beiden Seiten zu, ruhig in Deckung zu bleiben und abzuwarten bis ich einen Befehl zum Schießen gäbe. Ich sah mich nach einer Deckung um, die ich auch in einer tiefen verschneiten Ackerfurche fand. Hier – zwar nicht am vorgesehenen Platz in der Mitte unserer Verteidigungslinie – wartete ich ab. Eine verhältnismäßig lange Zeit verging, jedenfalls kam es mir sehr lange vor. Das dumpfe Grollen der Panzermotoren wurde lauter, und in der Ferne sah ich – noch recht undeutlich – die ersten Panzer in unsere Richtung rollen. Außer den Motorgeräuschen war es still, kein Schuß war bisher gefallen. Ich sah nach rechts und links, um Blickverbindung zu meinen Leuten zu halten. Ein eisiger Schreck durchfuhr mich. Einige meiner Soldaten krochen vorsichtig, andere liefen schon gebückt in rückwärtige Richtung auf das Dorf zu. Laut schrie ich hinter ihnen her; entweder hörten sie mich nicht oder wollten mich gar nicht hören. Ich war völlig ratlos und durcheinander, vor allem als ich sah, daß immer mehr ihnen folgten, bis ich offensichtlich noch allein in meiner Vertiefung lag. Die Angst und die darauf erfolgte Flucht einzelner Soldaten hatte in dieser gewiß recht hoffnungslosen Situation eine nicht aufzuhaltende ansteckende Wirkung. Was sollte ich tun? Ich war Offizier und hatte einen klaren Befehl. Auch flüchten und mich als Feigling zurückmelden?

Verzweifelt blieb ich liegen. Ich hatte das Gefühl, daß ich in dieser Situation keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Die russischen Panzer kamen näher und fuhren einige hundert Meter links von mir vorbei in Richtung Moritten. Ich sah eine kleine Gruppe russischer Soldaten vorsichtig hinter einem der Panzer hergehen. Wahrscheinlich verlor ich jetzt Nerven und Verstand, jedenfalls handelte ich mechanisch wie in Trance. Ich entsicherte meine Maschinenpistole, und in der Vertiefung liegend mit aufgestützten Ellenbogen schoß ich einen kurzen Feuerstoß in Richtung der russischen Soldaten. Dann nahm ich volle Deckung und hörte erst mal nichts. Plötzlich ein MG–Feuerstoß, der weit an mir vorbeiging. Die Russen hatten offensichtlich nur die ganz grobe Richtung, aus der meine Schüsse gekommen waren, ausgemacht. Außerdem wird das Feuer einer Maschinenpistole auf diese Entfernung nicht gerade laut gewesen sein und kann schon gar keine Wirkung erzielt haben. Ich hatte völlig unsinnig gehandelt. Noch ein weiterer MG–Feuerstoß ging in gleicher Richtung weit an mir vorbei. Nach einer kurzen Pause hörte ich wieder das Rollen der Panzer. Ich blieb in voller Deckung liegen.

Wie lange ich so gelegen habe, weiß ich nicht. Jedenfalls verstummten die Panzer, sie hatten wohl das Dorf erreicht. Nach einer ganzen Zeit hörte ich Stimmen und viele Geräusche aus der Richtung des Ortes. Die russischen Soldaten durchsuchten wohl die Häuser und ich lag nur gut 200 m von ihnen entfernt in einer Ackerfurche im Schnee. Wann würden nachfolgende russische Panzer oder Soldaten mich hier entdecken? Mir wurde es langsam ungemütlich und unheimlich. Irgendwie mußte ich hier noch beizeiten fortkommen, wenn ich den Russen nicht in die Hände fallen wollte.

Vorsichtig sah ich über die Böschung meiner Furche. Ungefähr 150 m links von mir sah ich eine Busch– und Baumreihe neben einem Weg, der in das Dorf führte. Diesen natürlichen Sichtschutz müßte ich erst einmal erreichen und dann weitersehen. Ich rechnete mir aus, daß ich diese Entfernung in etwa 5 bis 6 Sätzen überwinden könnte. Nachdem ich meine Maschinenpistole überprüft und in die rechte Hand genommen hatte, setzte ich zum ersten Sprung an und schaffte in gebücktem Laufen ein ganzes Stück, warf mich dann wieder hin in den Schnee und beobachtete das Gelände. Bis hierhin war es gut gegangen. Da ich natürlich den kürzesten Weg zu dem Buschwerk nehmen wollte, kam ich notgedrungen auch dem Dorf näher. Nach einer ganz kurzen Pause setzte ich zum zweiten Sprung an, kam auch gut vorwärts, als plötzlich Gewehrschüsse in meine Richtung gingen. Ich hörte das Zischen der vorbeifliegenden Geschosse. Es war unmöglich, mich jetzt hinzuwerfen, denn dann böte ich ein sicheres Ziel. Ich lief – nicht mehr gebückt – so schnell es mir möglich war, schlug Haken und versuchte, den Heckenweg zu erreichen. Plötzlich ein furchtbarer Schlag gegen meinen Bauch – wie mit einem Riesenhammer.

Ich weiß nicht wie mir weiter geschah, im Schnee liegend kam ich zu mir. Meine Beine konnte ich nicht mehr bewegen. Ich sah an mir hinunter; meine Tarnjacke war in der Bauchgegend total zerrissen und alles rot von Blut. Kein Schuß fiel mehr, kein Russe ließ sich sehen. Sie blieben am Dorfrand und gaben sich wohl damit zufrieden, mich erledigt zu haben – eine Annahme zu der sie gewiß allen Grund hatten, denn das Geschoß, das mich getroffen hatte war – wie ich erst später erfuhr – ein Explosivgeschoß. Das sind Geschosse mit Explosivfüllung und Aufschlagzünder, die also beim Auftreffen explodieren und eine furchtbare Wunde reißen.

Mit der Hand und dem Unterarm versuchte ich die Wunde zuzupressen. Das Blut lief mir über die Hand in den Schnee. Was sollte ich machen? Angst überfiel mich. Wenn russische Soldaten mich hier finden und sehen, daß ich noch lebe, würde im günstigsten Falle noch eine Kugel für mich geopfert. Dann dachte ich wieder: Es ist alles egal, bleib liegen, zu retten bist du doch nicht mehr.

Ich erinnere mich überhaupt nicht, ob ich Schmerzen empfunden hatte. Jedenfalls weiß ich, daß irgendwann der unbändige Entschluß da war: Hier mußt du weg. Ich preßte wieder die linke Hand und den Unterarm noch fester gegen die große Wunde am Bauch, drehte mich vorsichtig auf die Seite und robbte mit dem rechten Arm langsam durch den Schnee in Richtung des Weges. Im Schnee hinterließ ich hinter mir eine rote Blutspur. Ich weiß nicht, wie lange es dauerte bis ich Hecke und Weg erreichte – unendlich lang kam mir der Weg vor, obwohl es wohl kaum 80 m gewesen sein können. Doch endlich erreichte ich mein Ziel. Von der furchtbaren Anstrengung erschöpft, blieb ich zusammengekauert in der Hecke liegen. Ich hörte wieder den Lärm der russischen Soldaten in dem Dorf Moritten. Sie plünderten und hatten vielleicht auch Schnaps gefunden. Jedenfalls dachten sie im Augenblick gewiß nicht an Krieg – zu meiner Rettung. Das sollte sich im weiteren Verlauf zu meinen Gunsten noch deutlicher erweisen.

Mir ging es sehr schlecht. Ich war weit in das schützende Gebüsch seitlich des Weges gekrochen und glaubte, daß ich hier wohl bald sterben würde. Einen Plan hatte ich. Sollten russische Soldaten vorbeikommen, wollte ich den Kopf auf die Seite legen und einen Toten spielen. Ich wußte, daß mit verwundeten Gegnern meistens nicht viel Federlesens gemacht wurde.

Wie lange hatte ich so gelegen? Ich weiß es nicht. Plötzlich sah ich, wie sich eine gebückte Gestalt an die Hecke gedrückt vorsichtig in Richtung des Dorfes bewegte; gleich mußte sie in meiner Nähe sein. Ich spielte also den Toten, blinzelte aber vorsichtig und sah zu meiner Überraschung, daß es sich um einen deutschen Soldaten handelte. Als er fast neben mir war, machte ich mich durch leises Rufen bemerkbar. Erschrocken kam er zu mir und erkannte mich als deutschen Soldaten. Er sah gewiß, in welchem Zustand ich mich befand. Ich teilte ihm kurz mit, was sich hier ereignet hatte und erfuhr, daß er als Oberleutnant einer Artillerie–Einheit bei einem russischen Angriff hinter die russischen Linien geraten war, sich dann nachts versteckt hatte und nun dem Gefechtslärm und den Panzergeräuschen nachgehend und schleichend durch die Kampflinien wieder zurückfinden wollte. Ich informierte ihn über die Lage hier, besonders in Moritten. Er sah nach meiner Verwundung, konnte aber nicht helfen, da wir beide kein Verbandszeug hatten, von der erforderlichen Menge ganz zu schweigen. Ich riet ihm noch, sich am Rande des Ortes entlangzuschleichen, da die Russen gewiß noch eine ganze Zeit mit Plündern in den Häusern beschäftigt seien, mich sollte er liegen lassen, denn mir sei wohl doch nicht mehr zu helfen. Darauf erklärte er – fast in Befehlsform – ich solle die Klappe halten und ruhig bleiben, selbstverständlich nehme er mich mit. Ich hatte auch nicht mehr die Kraft und war schon gar nicht mehr in der Verfassung zu widersprechen.

Eine furchtbare Strapaze verbunden mit Angst, Hindernissen und Schmerzen für mich begann. Auf dem Rücken liegend, die linke Hand und den linken Unterarm auf meine Bauchwunde gepreßt zog mich mein Kamerad an meiner ausgestreckten rechten Hand wie einen Schlitten hinter sich her durch den Schnee. Er ging gebückt und aufmerksam die Gegend beobachtend auf dem Feldweg dicht an die Büsche gedrückt in Richtung des östlichen Dorfrandes. Aus den Häusern hörten wir Stimmen und Lärm der russischen Soldaten, während wir in gebührendem Abstand durch die hinteren Gärten – oft im Schutz von Ställen und Schuppen – schleichend unseren Weg suchten. Einigemale mußten wir Lattenzäune überwinden, die sich zwischen den Gärten befanden. Mein Kamerad trat vorsichtig und möglichst leise im Sitzen einige senkrechte Holzlatten heraus, schob mich dicht an den Zaun und half mir durch Heben und Ziehen mit meiner schwachen Unterstützung über die untere Querlatte. Das kostete Zeit und Kräfte und bereitete mir große Mühe und Schmerzen. So erreichten wir den südlichen Dorfrand, nachdem ich unterwegs meinen selbstlosen Helfer des öfteren aufgefordert und angefleht hatte, mich liegen zu lassen – die Schmerzen und die Hoffnungslosigkeit in dieser Situation machten mir zu schaffen – und doch sich selbst in Sicherheit zu bringen. Barsch lehnte er jedesmal ab. Wir konnten endlich das Dorf verlassen. Wieder zog er mich wie einen Schlitten hinter sich her, gebückt schneller gehend unter Ausnutzung des durch Buschwerk geschützten Weges. Ich weiß nicht, wie lange wir brauchten, bis wir den Wald südlich von Moritten erreichten.

Nun ging es durch den Wald, der uns mehr Schutz bot. Ich konnte Schmerzen und Anstrengungen kaum noch aushalten. Plötzlich sagte mir mein Kamerad leise, daß ich still sein und liegen bleiben solle. Er hatte aus einiger Entfernung Geräusche und wohl auch Stimmen gehört; er war verschwunden. Nach einiger Zeit hörte ich Schritte und leises Sprechen. Mein Kamerad kam mit zwei deutschen Soldaten zu mir zurück. Ich konnte nicht fassen, was geschehen war. Dann erfuhr ich, daß ein Funkwagen unserer Division gerade seine Stellung räumte, um sich weiter in Richtung der vorgesehenen Auffangstellung abzusetzen. Die drei Soldaten schafften mich mit vereinten Kräften die kurze Strecke zu dem Funkwagen, wo noch einige andere Funker warteten. Sie breiteten eine Decke aus dem Wagen auf dem Boden aus und legten mich darauf, um mich mit Verbandsmaterial aus dem Wagen notdürftig zu verbinden. Danach hoben sie mich auf den Beifahrersitz. Mein Fluchtkamerad hatte sich neben mich gequetscht, hielt mir die Hand und sprach mir Mut zu. Sie würden mich zu einem weit zurückliegenden Hauptverbandsplatz fahren, von dem sie über Funk erfahren hätten, er bleibe bis dahin bei mir. Zeitweilig stellte er sich draußen außerhalb der Tür auf das Trittbrett des Funkwagens neben mir. Ich glaube, oft war ich ohne Besinnung, denn meine Erinnerung an Einzelheiten der Fahrt ist sehr getrübt und lückenhaft.

Es dämmerte schon, als man mich beim Hauptverbandsplatz in der kleinen Schule des ostpreußischen Dorfes Hermsdorf auslud. Mein Fluchthelfer stand neben mir, als ich auf einem Tisch abgelegt wurde, der offensichtlich als Verbands– und OP–Tisch hergerichtet war, drückte er mir noch einmal die Hand und verabschiedete sich mit vielen Wünschen von mir. Ich habe ihn nie wieder gesehen und kannte auch nicht einmal seinen Namen.


nächstes Kapitel