Preußisch Eylau - Moritten






Erster Teil

(Februar - März)

I
Richtung Königsberg - Preußisch Eylau - Tharau - russischer Panzerangriff - Schloss Kilgis - ein sinnloses Kommando - Porschkeim - Moritten




Herbert Wille: Es muß der 2. oder 3. Februar 1945 gewesen sein; ganz genau kann ich das nicht mehr datieren. Wir fuhren mit einem "Wanderer"-PKW.

Rolf-Peter Wille: War das ein Luxuswagen oder eine Klapperkiste?

HW: Das war kein Luxuswagen, sondern ein damals gängiger Wagen der unteren Mittelklasse der Marke "Wanderer", die es nach dem Kriege nicht mehr gab.

PKW Wanderer-W51, Russland 1943

Wir fuhren auf der Straße von Bartenstein [Bartoszyce] über Preußisch Eylau [Bagrationovsk ] in Richtung Königsberg [Kaliningrad], wir – das heißt mein Fahrer, neben dem ich saß, und hinter uns auf der Rückbank ein Obergefreiter der Stabskompanie – an die Namen der beiden kann ich mich nicht mehr entsinnen, es ist zu lange her.


Preußisch Eylau, um 1900



Ortsschild, um 2000
RPW: Kannst Du Dich an Charakter- oder Körpermerkmale der beiden erinnern? Wie war die Stimmung im Auto?

HW: An Charakter und Aussehen der beiden habe ich keine genaue Erinnerung mehr. Die Stimmung im Auto war wesentlich von Müdigkeit und Ungewißheit über unsere Lage geprägt.
So um den 25. Januar hatte unser Regiment die Stellungen am Narew zwischen Nowogrod und Lomscha in Nordpolen etwa 60 km südlich der Grenze zu Ostpreußen aufgegeben, ohne daß ein Angriff der russischen Gegner über das Eis des zugefrorenen Flusses erfolgt war. Wir hörten nur, der Rückzug erfolge auf Befehl der Heeresleitung, da durch den am 15. Januar begonnenen Großangriff der Roten Armee aus östlicher Richtung auf Königsberg zu für uns und große Teile der Wehrmacht die Gefahr der Einkesselung bestand. Ich war ein junger Leutnant – seit etwa 2½ Jahren Soldat - und bekam den Befehl, gewissermaßen als Vorkommando in Richtung Königsberg zu fahren und südlich der Stadt die Ankunft des Regiments abzuwarten und die Wartezeit zu nutzen, Gelände, Örtlichkeiten, Lage usw. zu erkunden und zu beobachten und dem wahrscheinlich erheblich später eintreffenden Regimentskommandeur – mit dem Regiment, seinen vielen Soldaten (rund 800), den Fahrzeugen, Geschützen usw. – zu berichten und mit Ratschlägen zu dienen.

Inzwischen war es dunkel geworden. Wir waren seit Tagen mit dem PKW unterwegs. Verstopfte, zerstörte und auch gesperrte Straßen und Ortschaften hatten uns aufgehalten. Die Landschaft war verschneit, Straßen zum Teil nicht oder nur schwer zu befahren.

RPW: Was hatte die Landschaft für einen Charakter? War sie öde, erhaben, weitläufig, lieblich? Konnte man sie mit irgendeiner Landschaft in Niedersachsen vergleichen, oder gab es ein spezifisch "östliches" Flair? War es flach? Dünn besiedelt?

HW: Außer Weitläufigkeit und viel Schnee nahmen wir wenig von der Landschaft wahr. Die Dörfer lagen meistens in großen Abständen voneinander.
Die Kälte – besonders nachts – ließ bei längeren Pausen hin und wieder die Benzinleitung einfrieren; diese mußte dann mühselig wieder aufgetaut werden.

RPW: Wie?

HW: Die einfachste Methode war, heißes möglichst kochendes Wasser vorsichtig auf die Benzinleitung des Motors zu gießen.

Flüchtlingstreck, Januar 1945

Flüchtlingstrecks verstopften die Straßen und machten oft ein Durchkommen unmöglich. 



Wegen der Gefahr durch feindliche Nachtflugzeuge mußten wir ohne Licht fahren, falls wir nachts überhaupt fahren konnten. Fahrzeuge der deutschen Wehrmacht – auch Panzer und Sturmgeschütze – waren überall unterwegs, zum Teil zu uns im Gegenverkehr oder mit uns in gleicher Richtung; beide hielten uns auf, zwangen uns oft zu stundenlangem Stillstand.


Deutsche Truppen in Ostpreußen, Januar 1945

Nun waren wir nach tage- und nächtelanger Fahrt etwa 60 km südlich Königsberg. Wir mußten langsam fahren. Dunkelheit, Hindernisse und verschneite Straßen zwangen uns dazu. Ich saß auf dem Beifahrersitz und studierte im Schein einer Taschenlampe die Landkarte auf meinen Knien. Die Entfernung bis Königsberg abschätzend, fuhr ich mit dem Finger die Strecke entlang und entzifferte im schwachen Schein der Taschenlampe die Namen der noch zu durchfahrenden Orte. Da, dieser Name kam mir irgendwie bekannt vor: Tharau [Vladimirovo]! Ich war noch nie hier in Ostpreußen gewesen. Wieso kannte ich diesen Namen? Plötzlich fiel es mir ein: "Ännchen von Tharau"! Dieses alte deutsche Volkslied, gedichtet vor etwa 300 Jahren von Simon Dach, dem Poeten und Theologen aus Königsberg, zur Hochzeit der Pfarrerstochter aus Tharau. Hier mußte sie also gewohnt haben, die er so innig angedichtet hatte. 


"Ännchen von Tharau ist's, die mir gefällt, 
Sie ist mein Leben, mein Gut und mein Geld." 

Noch etwa 20 km waren es bis dort. In Anbetracht unserer mehr als mäßigen Geschwindigkeit durch Dunkelheit und Schnee würde das eine knappe Fahrstunde bedeuten. Aber vorher mußten wir noch den etwas größeren Ort Mühlhausen [Gvardeyskoye (Gvardejskoe)] passieren. Ich stierte angespannt durch die Windschutzscheibe auf die nur durch Mondschein und Schnee schwach aufgehellte Straße, um dem Fahrer neben mir – falls erforderlich – bei der Orientierung behilflich zu sein. Alle drei kämpften wir infolge der hinter uns liegenden Strapazen und der inzwischen nächtlichen Stunde mit unserer bedrohlichen Müdigkeit.

Da tauchte an der rechten Straßenseite, schwer zu erkennen, ein Ortsschild auf. Ich forderte meinen Fahrer auf, noch langsamer zu fahren; und in der schwachen Beleuchtung durch Schnee und Mond erkannten wir den Namen "Mühlhausen". Genau in diesem Augenblick ließ uns das Geknatter eines Maschinengewehres – wahrscheinlich aus der Richtung der ersten Häuser am Ortsrand – zusammenfahren. Mein Fahrer – geistesgegenwärtig und unfaßbar reaktionsschnell – bremste, stieß unter gleichzeitigem Einschlagen des Lenkrades zurück, wendete und fuhr mit erheblich gesteigerter Geschwindigkeit den soeben befahrenen Weg zurück. Wir saßen, gebückt und voll munter geworden, auf unseren Plätzen, wagten kaum uns umzusehen, hätten auch bei der Dunkelheit ohnehin nichts erkennen können.

RPW: Habt Ihr geredet, aufgeschrien, geflüstert, oder seid Ihr stumm geblieben?

HW: Wir waren furchtbar erschreckt, duckten uns und sagten bestimmt kein Wort. Ich glaube, erst nachdem wir dank der richtigen Reaktion unseres Fahrers ein beträchtliches Stück zurückgefahren waren, berieten wir über unsere Lage und was am besten zu tun sei.
Nur aus der Ferne hörten wir noch ein paar Feuerstöße nachdem wir angehalten hatten. Alle drei waren wir uns einig: nach dem Tempo der Schußfolge und dem leicht stotterndem Ablauf derselben konnte es sich nur um ein russisches Maxim-MG gehandelt haben.

RPW: Kommt das Stottern von schlechterer Qualität?

HW: Der Grund für die unregelmäßige Schußfolge des russischen Maxim-MGs ist mir nicht bekannt. Die Schußfolge war langsamer als die unserer MGs, die wohl wirkungsvoller waren, aber sehr viel Munition verschossen.

russisches Maxim MG, Baujahr 1944

Verstört und ziemlich ratlos beschloß ich, daß wir vorsichtig und langsam in Richtung Preußisch Eylau zurückfuhren. Gegen Morgen, es war noch dunkel, trafen wir dort ein und stießen auf einzelne deutsche Truppenteile, die ebenfalls einen recht ratlosen Eindruck machten. Niemand hatte einen Durchblick; die Lage war verworren. Erst im Laufe des Tages zogen Verbände der Wehrmacht – auch mit einzelnen Panzern – an uns vorbei in nördliche Richtung, versehen mit unserer Information, daß wir in der letzten Nacht bei Mühlhausen offensichtlich auf russische Verbände gestoßen waren.

Wir verbrachten den restlichen Tag und die Nacht in einem Haus am südlichen Stadtrand Preußisch Eylaus, die Ankunft unseres Regiments erwartend.

RPW: War das ein einfaches Bauernhaus oder ein mehrstöckiger Betonklotz? Waren die Bewohner bereits geflohen?

HW: Preußisch Eylau war eine ostpreußische Kleinstadt ähnlich denen in Norddeutschland: kleinbürgerliche Häuser, in der Regel ein- bis zweistöckig und in weiträumiger Bebauung, denn Gelände war in Ostpreußen keine Mangelware. - Die Bevölkerung war nach meiner Schätzung wohl schon zu 80% geflüchtet.
Der nächste Tag und die nächste Nacht vergingen.

RPW: Wie verbringt man solche Zeit? Nichstun, Reden, Lesen, Kartenspielen, Rauchen…?

HW: Es herrschte große Unruhe, Ungewißheit und gespannte Erwartung; die Zeit wurde verbracht mit vielen Gesprächen, Suche nach Eßbarem und dessen Zubereitung. Bücher und innere Ruhe zum Lesen waren nicht vorhanden.
Wir bemerkten nur, daß inzwischen verstärkt Verbände der Wehrmacht den Ort passierten. Ich versuchte, nähere Einzelheiten über die militärische Lage in diesem Bereich in Erfahrung zu bringen, was in Anbetracht der verworrenen Situation äußerst schwierig war. Was konnte ich als Tatsache werten, was war mehr Vermutung oder nur Gerücht? Soviel schien jedenfalls festzustehen: Der Stoßkeil der Roten Armee war südlich von Königsberg in Richtung Frisches Haff erfolgt; ob dieses schon erreicht war, konnte ich nicht in Erfahrung bringen. Gerüchte besagten, Königsberg selbst sei noch in der Hand deutscher Verbände.

RPW: Von wem hört man solche Gerüchte? Radio? Personen?

HW: Gerüchte hörte man von anderen Soldaten und auch von den wenigen verbliebenen Bewohnern. Radio konnten wir nicht hören, da die Stromversorgung schon längst nicht mehr funktionierte und wir keine Batteriegeräte hatten.
Am späten Nachmittag bekamen wir Kontakt mit den ersten Einheiten unseres Regiments, das im Verbund mit den anderen Regimentern der Division nach und nach im Raum Preußisch Eylau eintraf. Ich konnte mich beim Regimentskommandeur melden und einen Lagebericht, soweit mir möglich, abgeben.

RPW: Mündlich? Wie wurde man als Leutnant behandelt von einem Regimentskommandeur?

HW: Der Bericht wurde mündlich gegeben. Das Verhältnis zum Regimentskommandeur war dienstlich-korrekt entsprechend dem Dienstgradsunterschied aber doch auch kameradschaftlich.
Mein Auftrag war erfüllt, und ich hatte mich wieder dem Regiment einzuordnen. Inzwischen schienen wieder eine gewisse Übersicht und vor allem auch einigermaßen funktionierende Befehlsstrukturen in unseren Verbänden einzukehren, vor allen Dingen aus dem Bereich des Armeekorps. Jedenfalls mußten wir uns noch im Laufe der Nacht in Richtung auf ein Gelände südlich Kreuzburg [Slavskoe] in Marsch setzen. Jedenfalls mußten wir uns noch im Laufe der Nacht in Richtung auf ein Gelände südlich Kreuzburg in Marsch setzen.

RPW: Wer wart "Ihr"? Eine Truppe, ein Korps, ein Regiment? Wieviele Personen?

HW: Das war unser Regiment. Ich schätze seine damalige Stärke auf etwa 800 Soldaten; normalerweise war die Sollstärke eines Infanterie-Regiments etwa doppelt so groß. Aber die Ereignisse des Krieges der verflossenen Jahre und die vielen Kampfeinsätze der vergangenen Monate für unser Regiment (Gefallene und Verwundete) hatten große Verluste gebracht, die nicht wieder aufgefüllt werden konnten. Offensichtlich sollte eine einigermaßen geschlossene Verteidigungslinie südlich des russischen Keils aufgebaut werden. Gemunkelt wurde auch, daß ein Versuch unternommen werden sollte, den Keil zu durchbrechen, um einen Weg nach Königsberg zu öffnen.
Im Laufe des späten Tages – es fing gerade an zu dunkeln – trafen wir in unserem Bereitstellungsraum ein und richteten uns bei der eisigen Kälte der Nacht in verlassenen Häusern und in verschneiten Senken, die von Buschwerk und wenigen Bäumen bestanden waren, so gut es ging ein.

RPW: Waren das Bauernhäuser? In gutem Zustand oder zerfallen? Wie waren die Klos? "Einrichten" klingt etwas trocken. Baut man sich ein Zelt, oder haut man sich mit einem Schlafsack in den Schnee? Verrichtet man die Notdurft hinter den Büschen?

HW: Das waren meistens Bauernhäuser oder Häuser von Landarbeitern im üblichen Zustand, noch nicht von Kriegsereignissen betroffen und in der Regel mit "Plumps-Klos". Zelte und Schlafsäcke gehörten nicht zur Ausrüstung, wären auch gar nicht von den Soldaten zu transportieren gewesen. Mit Hilfe von schnell auftreibbaren Brettern, Strohballen, Buschwerk u.ä. richteten wir uns in notdürftig mit Spaten und Hacken ausgehobenen Erdgruben ein. Wichtig war immer die Deckung gegen Beschuß zur Feindseite. Mit dem Verrichten der Notdurft mußte jeder einzelne selbst zurechtkommen, selbstverständlich in der Regel im freien Gelände.
Wachen wurden eingeteilt, die Soldaten zu Ruhe und konzentrierter Wachsamkeit ermahnt. Alle waren verfroren und total übermüdet. Die Versorgung mit Verpflegung und auch die Bereitstellung von Munitionsreserven machten erhebliche Schwierigkeiten. Die Nacht verging langsam unter ständigem Kampf mit Müdigkeit, Kälte und Hunger.

RPW: Was gab’s eigentlich als Essen?

HW: In dieser hier erlebten Ausnahmesituation (keine festen länger gehaltenen Stellungen, kein organisierter Nachschub von Verpflegung für unsere Feldküchen) gab es keine geregelte Essensversorgung. Wir mußten uns im wesentlichen selbst helfen und versorgen.
Am nächsten Morgen ganz in der Frühe – es war noch dunkel – hörten wir aus der Ferne vor uns Motorgeräusche; alle waren sofort hellwach. Das gleichmäßige etwas monotone Rollen – noch aus weiter Ferne – verriet uns sofort, daß es sich um Panzer handeln mußte. Ja, dieses ganz besondere Geräusch rollender Panzer kannten wir sehr genau: das konnten nur russische T 34 sein.


RPW: Wie fühltest Du Dich als Du das hörtest?

HW: Schwer erinnerbar; ich kann es nicht sagen.
Leise wurden Befehle durchgerufen und Maschinengewehre in Bereitstellung gebracht. Plötzlich setzte Artilleriefeuer ein, genau auf unsere Bereitstellungen, schnell suchten wir alle Deckung.

RPW: Wo? Wie?

HW: Deckung boten - soweit vorhanden und möglich - die oben beschriebenen Erdgruben oder vorhandene Mauern, Gebäudeteile und Gräben oder Vertiefungen.
Der Beschuß der russischen Artillerie hielt etwa eine knappe Stunde an, bis der Tag dämmerte. Wir ahnten was uns bevorstand. Was wir bisher erlebten war mit Sicherheit die Vorbereitung eines Angriffs auf unsere Stellungen gewesen. Im Schutze des Artilleriefeuers hatten sich die russischen Panzer und wahrscheinlich auch Infanteristen unseren Stellungen genähert. Nun sahen wir auch im Licht des angebrochenen Tages zahlreiche T 34 – Panzer noch in ziemlicher Ferne auf uns zurollen.

Die ersten Granaten unserer Panzer-Abwehr-Kanonen wurden abgeschossen und schlugen in der Nähe der russischen Panzer ein.
RPW: Von wem? Auch von Dir? Oder gibt es besonders ausgebildete Granatwerfer? Braucht man Technik dafür? Wo standen diese Kanonen?

HW: Panzer-Abwehr-Kanonen (PAK), die von dafür ausgebildeten Soldaten bedient wurden, sind speziell für den Beschuß von Panzern eingesetzt und schießen mit Panzergranaten (keine Granaten mit Sprengköpfen, sondern mit hartem Stahlkern zur Durchdringung der Panzerung) in direkter gerader Flugbahn (ähnlich den Gewehrgeschossen); darum müssen sie auch in der vordersten Kampflinie postiert sein.


PAK 38

Die russischen Panzer erwiderten sofort das Feuer mit ihren Kanonen auf unsere Stellungen.

RPW: Wie wurden diese Kanonen transportiert?

HW: Jede PAK-Kanone wurde mit dem Ende des rückwärtigen Sporns an eine Anhängevorrichtung eines speziellen Motorfahrzeuges (ähnlich einem Geländewagen) angekuppelt und gezogen.
Ein Höllenlärm war losgebrochen. Langsam arbeiteten sich die russischen Panzer weiter vor. Da sahen wir hinter den Panzern – in ihrem Schutz – gebückt laufende russische Infanteristen, die mit Gewehren und Maschinenpistolen ziemlich wahllos in unsere Richtung feuerten. 


russische Infanteristen in Ostpreußen, 1945

Nun wurde auf unserer Seite das Kommando zum Gegenfeuer durchgerufen. Die ersten MG-Salven schlugen den Russen entgegen. Jetzt verstärkten die Panzer ihr Feuer auf uns, hielten aber plötzlich in ungefähr 300 bis 400 m Entfernung unter Ausnutzung von Geländevertiefungen an. Wir konzentrierten unser Gewehr- und MG-Feuer auf die russischen Soldaten hinter den Panzern, sahen auch Erfolge, denn einige der Soldaten blieben liegen, anscheinend getroffen oder um in besserer Deckung zu bleiben. Auch wir waren in mißlicher Lage, denn wir waren relativ ungeschützt in dem verschneiten Gelände, da wir uns aus Zeitmangel und wegen des mit Schnee bedeckten gefrorenen Bodens noch nicht eingegraben hatten; kein Panzerdeckungsloch war ausgehoben, jeder mußte sehen wo er im Gelände eine Deckung fand.

RPW: Was ist ein Panzerdeckungsloch und wer hebt es wie aus?

HW: Für uns Infanteristen waren feindliche Panzer sehr gefährlich. Wenn man ihnen durch Flucht entkommen wollte, lief man Gefahr, von dem MG im Turm des Panzers niedergemäht zu werden, denn die Panzerbesatzung kann durch schmale Sehschlitze das gesamte Gelände übersehen. Die größte Sicherheit bot daher eine ausgehobene schmale rechteckige Grube, in der meistens zwei Soldaten Platz hatten und die eine gewisse Ähnlichkeit mit einem frisch ausgehobenen Grab hatte. Man mußte sich in diesem "Panzerdeckungsloch" selbstverständlich niederkauern, so daß sich der Kopf unter dem Bodenniveau befand. In diesem Panzerdeckungsloch war man vor der beschränkten Sicht der Panzerbesatzung durch die Sehschlitze und vor allen Dingen gegen den Beschuß relativ sicher. Man ließ die feindlichen Panzer einfach vorbeifahren.

Infanterie gräbt sich ein, Russland 1942

Besonders die mit Sprenggranaten schießenden russischen Panzer fügten uns erhebliche Verluste zu.

RPW: "Verluste?" Material, Personen? Hast Du gesehen, wie jemand verwundet wurde oder starb? Waren Kameraden oder nahe Freunde darunter? Wie weit entfernt warst Du von Deinen Kameraden? Standet Ihr direkt nebeneinader, oder weit versprengt? In Rufweite…? Wie fühlt man sich, wenn man solche "Verluste" sieht? Wie reagieren Getroffene? Fallen sie meist nur um, oder gibt es welche, die schreien, gestikulieren, um Hilfe rufen? Fühltest Du Dich eher in einer dramatischen, chaotischen oder unwirklichen Szene?

HW: Bei Kampfhandlungen - vor allem im Bewegungskrieg und weniger häufig im Stellungskrieg - erlebte ich oft, daß Kameraden in meiner unmitelbaren Nachbarschaft wenige Schritte von mir entfernt verwundet oder getötet wurden. Hier in dieser Lage hatten wir starke Verluste durch Sprenggranaten. Soweit ich mich erinnere, konnte ich im Augenblick des starken Beschusses wenig oder vielleicht auch gar keinen Anteil an meinen Kameraden nehmen, da ich auf mich selbst achten mußte. Von Granatsplittern zum Teil schwer Verwundete lagen im Gelände und riefen um Hilfe. Aber diese konnten wir ihnen erst nach dem russischen Angriff und Feuerüberfall zukommen lassen. Natürlich waren auch mir persönlich bekannte Soldaten darunter. Die ganze Szenerie, die sich uns hier darbot, war zwar auch für uns nicht alltäglich, aber in ähnlicher Form doch schon wiederholt erlebt, also keineswegs unwirklich.
Die Lage wurde für uns bedrohlich, obwohl der feindliche Angriff offensichlich ins Stocken geriet. Es war ein Stillstand eingetreten, begleitet von Gewehrfeuer und gelegentlichen Abschüssen der auf Distanz verharrenden Panzer und vereinzelten Abschüssen unserer Panzer-Abwehrkanonen. Einige Stunden vergingen so, während der wir kaum wagten uns vom Fleck zu bewegen.

RPW: Spricht man noch, in dieser Situation, oder bleibt man still? Bleibt man auch als Verwundeter dann stundenlang irgenwo liegen?

HW: Selbstverständlich sprachen wir miteinander und berieten die Lage. Auch bemühten wir uns - unter Ausnutzung von Deckungen und Schußpausen Verwundete zu bergen und zu versorgen.
Dann bemerkten wir Bewegung beim Gegner. Einzelne Panzer wendeten offensichtlich vorsichtig im Schutz ihrer Deckung und im Schutz des erheblich verstärkten Beschusses unserer Stellungen durch die übrigen Panzer. Auch die russischen Infanteristen bewegten sich vorsichtig zurück. Wir versuchten mit PAK und MG’s diese Absetzbewegungen zu stören. Rückwärts fahrend und auf uns feuernd zogen sich zum Schluß auch die letzten Panzer zurück.

Der Nachmittag verging bei uns mit Versorgung und Abtransport der Verwundeten. Auch einige Gefallene mußten zurückgebracht werden.

RPW: Wieviele? Zwei oder drei, fünfzig, ein paar hundert? Kanntest Du welche von denen? Wieviele Leute trugen einen Verwundeten oder Gefallenen, oder ging man bereits mit Bahren auf die Suche? Gab es einen Arzt? Wie weit war es zum nächsten Lazarett?

HW: Die Anzahl der Gefallenen konnte ich nur begrenzt überschauen. Daran kann ich mich nicht mehr genau entsinnen; es waren in meinem Bereich gewiß nur wenige. Tragen zum Fortschaffen hatten wir nicht. Den Gefallenen wurde die untere Hälfte der dünnen metallenen ovalen "Erkennungsmarke" abgebrochen, die jeder Soldat an einer Schnur um den Hals auf der Brust trug und die eingesammelten Marken zum Stab zurückgeschafft. Von hier wurden die Angehörigen benachrichtigt und andere Formalitäten erledigt. Allerdings in dieser unübersichtlichen Situation wurde mit solchen Pflichten "großzügig" verfahren; wir hatten im Moment andere, größere Sorgen. Die Gefallenen wurden eingesammelt und meistens im Bewegungskrieg (wie hier) schnell in ausgehobenen Gräbern beigesetzt. Oft mußten sie auch liegenbleiben, da der gefrorene Boden, die ständige Gefechtstätigkeit oder schneller Rückzug wegen starker russischer Angriffe eine Beisetzung verhinderten. Wir hatten zwar einen Regimentsarzt - aber ich kann mich nicht entsinnen, wo er gerade in dieser schrecklichen und unübersichtlichen Lage war. Lazarette gab es im Kampfgebiet nicht, aber sogenannte Hauptverbandsplätze, die irgendwo im rückwärtigen Gebiet - meistens 10-20km entfernt in einer Schule oder einem anderen Gebäude - provisorisch untergebracht waren und in der Regel mit einem oder mehreren Ärzten und Sanitätern besetzt waren.


Erkennungsmarke der Wehrmacht, 1942

Die Russen hatten wohl ihre Verwundeten mitgenommen, nur wenige tote russische Soldaten lagen in der Ferne im Schnee.

RPW: Und blieben liegen? Was wäre mit zurückgebliebenen Verwundeten passiert?

HW: Gefallene russische Soldaten blieben liegen; verwundete Russen waren nicht vorhanden. Hätte es welche gegeben, blieb es unseren Soldaten überlassen, was sie je nach Gefechtslage und Schwere der Verwundung mit ihnen machten (versorgen wie eigene Verwundete oder liegen lassen).
Jetzt wurde bei uns die Lage sondiert. Die Abwehrstellung wurde – soweit überhaupt möglich – verbessert, Munition für Gewehre und Maschinengewehre ausgegeben und unsere Versorgungsfahrzeuge in etwas zurückgezogene Lage, möglichst nicht sichtbar, verlegt.

Gleich nach Einbruch der Dunkelheit trafen die Kompanieführer und die Offiziere des Stabes auf Befehl des Regimentskommandeurs im Regimentsgefechtsstand im Schloß Kilgis [Zaretschje] zusammen.

RPW: War es dort nobler als in einer verschneiten Senke? Gab es etwas besseres zu essen? Alkohol? War das Schloss verfallen oder in gutem Zustand? Wie war die Stimmung? Wie lange dauerte so ein Zusammentreffen? Wurde man korrekt behandelt vom Regimentskommandeur?

HW: Das Schloß Kilgis ähnelte mehr einer vornehmen Gutsverwaltung und war von Besitzern, Personal, Landarbeitern usw. bereits verlassen. Es war sehr gut erhalten, nur elektrischen Strom gab es nicht mehr. Es war keineswegs normal, daß der Regimentsgefechtsstand so nobel untergebracht war - es war ein Zufall; oft war es auch ein Erdbunker o.ä. Unsere Stimmung war schlecht, die Hoffnung auf ein Entkommen aus dieser Lage sank merklich. Unser Regimentskommandeur war ein ziemlich furchtloser korrekter Soldat, der aber unsere Situation völlig realistisch einschätzte. Ich erinnere mich nicht mehr, wie lange wir berieten.
Wir erfuhren sogleich, daß ein Befehl des Divisionskommandeurs vorlag, diese augenblickliche Stellung im Laufe der Nacht noch zu räumen, um etwa 15 km weiter südlich in Anlehnung links und rechts an andere Regimenter der Division eine neue günstigere Verteidigungsstellung schnellstens auszubauen. Die Absetzbewegung sollte noch bei Dunkelheit ziemlich lautlos und vom Russen unbemerkt beginnen und bis zum Anbruch der Helligkeit weitgehend abgeschlossen sein. Man rechnete mit einer Wiederholung des russischen Angriffs, allerdings wohl wahrscheinlich nicht gleich am nächsten Tage. Um eine Sicherung einzubauen, sollte eine zahlenmäßig kleine Kampfgruppe von etwa 40 Mann bereits etwa 5 bis 6 km südlich von hier in dem verschneiten Feldgelände vor dem Dorf Moritten [Oktjabrskoe] Stellung beziehen bis kurz vor Beginn der Dunkelheit des nächsten Tages. Wir wußten aus Erfahrung, daß die Russen mit Vorliebe ihren Angriffsweg so legten, daß möglichst schnell Dörfer erobert und besetzt wurden. Offensichtlich steigerte das erheblich das Erfolgserlebnis der Soldaten und verschaffte ihnen die Möglichkeit, auch noch Wertvolles aus den Häusern mitzunehmen, also zu plündern. Beides – Erfolgserlebnis und Plündern – trugen zur Kampfmoral der Truppe bei. Darum rechneten wir, daß die Stoßrichtung des nächsten Angriffs zuerst auf Moritten zielen würde.

RPW: War das Plündern nur bei Russen beliebt oder (zuvor) auch bei Deutschen?

HW: Da die Kriegsereignisse im Osten schon seit etwa Ende 1942 sich in der Weise gewandelt hatten, daß die deutsche Wehrmacht im wesentlichen einen Verteidigungskrieg führte und auf dem Rückzug war, wurde unser Rückzugsweg meistens durch den Angreifer bestimmt. Erfolgserlebnisse gab es kaum, und Plünderungen waren schon aus Mangel an "Plünderungsgut" gewiß selten.
Der genaue Auftrag für die kleine Kampfgruppe lautete, eventuell doch schon am nächsten Tage vorrückende russische Verbände in Kampfhandlungen zu verwickeln und ähnlich den Erfahrungen des heutigen Tages nur zum Stillstand zu zwingen, um unserem Regiment genügend Zeit zum Ausbau einer sicheren Verteidigungsstellung zu gewährleisten.

RPW: Ist das eine klassische Taktik? Kann man dann mit hohen "Verlusten" bei so einer Kampfguppe "rechnen"?

HW: Ich weiß nicht, ob das eine "klassische" Taktik ist. Für mich war es das erstemal (und das letztemal!), eine solche Unternehmung mitgemacht zu haben.
Beim Beginn der Dunkelheit sollte sich die Kampfgruppe vorsichtig und langsam auf die neue Verteidigungsstellung des Regiments zurückziehen. Sollte aber kein Angriff der Russen erfolgen – womit man eigentlich rechnete – sollte genau so verfahren werden, nämlich bei Einbruch der Dunklheit Rückzug in die neue Stellung. Der Regimentskommandeur schaute auf mich und sagte: "Leutnant Wille, Sie werden die Führung dieser Kampfgruppe übernehmen!"

RPW: Wurde so eine Entscheidung einzig und allein vom Regimentskommandeur getroffen? Wie alt war er? Hatte er besondere Charaktereigenschaften?

HW: Der Regimentskommandeur hatte diese Entscheidung meines Wissens allein getroffen. Sein Alter war etwa Mitte dreißig.
Da hatte es mich also schon wieder getroffen.

RPW: Früher schon einmal?

HW: Ich denke hierbei an den vorangegangenen Auftrag für mich, den ich Dir ja schilderte, als Vorkommando von Nordpolen Richtung Königsberg voranzufahren.
Ich war der jüngste aller Offiziere im Regiment, gehörte auch nicht zu den Kompanieführern und hatte bisher im wesentlichen Aufgaben im Regimentsstab zu erfüllen; vielleicht war das der Grund. Aus vier Schützenkompanien mußten je ein MG-Schütze mit einem LMG und neun Mann je mit Gewehr bewaffnet und dazugehöriger Munition abgestellt werden. Ort und Zeitpunkt des Treffens für alle wurden festgelegt.

RPW: Was ist ein LMG und von wem wurden Ort Und Zeitpunkt festgelegt?


MG42

HW: Ein LMG ist ein "Leichtes Maschinengewehr" im Gegensatz zu einem SMG ("Schweres MG"). Das LMG kann ein einzelner Schütze tragen und beim Schießen allein bedienen, denn es hat als Stütze nur ein ausklappbares kurzes Zweibein unter dem Lauf zum Aufsetzen auf den Boden; das SMG dagegen wird auf einer schweren Lafette (beweglicher Untersatz) aufgebaut und ist natürlich viel schwerer.


SMG mit Lafette im Einsatz

Danach wurden noch Einzelheiten und an Hand einer Karte der genaue Rückzugsweg festgelegt.

RPW: Von wem?

HW: Ich glaube, das hatten wir bei der Lagebesprechung gemeinsam festgelegt.
Pünktlich trafen die abkommandierten Soldaten an dem festgelegten Ort – einem kleinen Bauernanwesen – ein.

RPW: Ein verlassenes Anwesen?

HW: Alle Häuser in dieser Gegend waren zu diesem Zeitpunkt von den Bewohnern verlassen.
Die Leute wurden von mir begrüßt und in unseren Auftrag eingeweiht. Große Begeisterung glaubte ich nicht festzustellen, die Stimmung war gedrückt. Müdigkeit, Kälte und mangelnde Verpflegung machte allen zu schaffen. Zu vorgerückter Zeit – es war in den frühen Morgenstunden wohl gegen 3 Uhr marschierten wir los über verschneite Straßen und Feldwege in Richtung Moritten. Unterwegs hatten wir einige kurze Aufenthalte bei Häusern oder Bauerngehöften und machten eine längere Pause in der Nähe des kleinen Dorfes Porschkeim [Sidorovo]. Es war nicht so sehr das Bedürfnis auszuruhen als vielmehr der Versuch, in den verlassenen Häusern noch etwas Eßbares zu finden. Nirgendwo trafen wir auf Bewohner; diese hatten gottseidank rechtzeitig die Flucht ergriffen. Meine Leute öffneten Türen – zum Teil mit Gewalt – um vor allen Dingen beim Schein von Taschenlampen oder Kerzen in Kellern und Küchen zu suchen, zum Glück auch nicht ohne Erfolg.

RPW: Wie zivilisiert war es in diesen Häusern? Waren es Steinhäuser? Mehrstöckig? Gab es fliessendes Wasser? Plumpsklos mit oder ohne Gestank? Wie war die Einrichtung? Hatten die Flüchtlinge viel mitgenommen oder fast alles zurückgelassen? Glaubte noch jemand an eine eventuelle Wiederkehr, oder wußte jeder, daß dies so gut wie ausgeschlossen war?

HW: Die ostpreußischen dörflichen Häuser unterschieden sich nach meiner Erinnerung nicht von denen unserer norddeutschen Landschaft: es waren bäuerliche Anwesen aus Stein gebaut. Soviel ich mich erinnere, waren sie durchweg noch komplett eingerichtet. Die geflüchteten Bewohner hatten wohl kaum mehr als Kleidung und Verpflegung und wenig bewegliche Habe und manchmal auch lebendes Vieh mit auf die Flucht genommen. Ich weiß nicht, ob sie an eine eventuelle spätere Rückkehr glaubten, denn wir hatten kaum Kontakt mit Flüchtlingen gehabt als kämpfende Truppe.
Schon seit Tagen hatten wir kaum noch Verpflegung erhalten; wir mußten uns selbst aus dem Lande versorgen. Ich bekam von einem meiner Soldaten eine überdicke, trockene Scheibe altes schon kräftig fast schimmelig beschlagenes Brot ab. Miteinander tauchten wir unser Brot in ein großes Einmachglas, das mit Honig gefüllt war. Einige hatten Einmachgläser mit Gänsefleisch oder Rindsrouladen gefunden und fielen hungrig darüber her.

RPW: Sitzt man dann noch zusammen an einem Tisch, oder steht man, oder hockt jeder für sich auf einem Stuhl oder auf dem Boden? Wird viel geraucht? Worüber spricht man? Über den Auftrag, über das gefundene Essen, die Heimat, Witze?

HW: Das waren sehr verworrene und unruhige Situationen; wir setzten uns dahin, wo wir gerade Platz fanden und machten uns über die gefundenen Eßvorräte her. Selbstverständlich wurde geraucht - sofern noch Zigaretten vorhanden. Ich weiß nicht mehr, worüber wir dabei sprachen, aber wahrscheinlich über unsere Lage, unseren Auftrag und über Vermutungen wie alles ausgehen würde.
Nachdem diese Erlebnisse unsere Stimmung wieder etwas gehoben hatten, setzten wir unseren Marsch fort und trafen recht früh noch bei Dunkelheit bei dem Dorf Moritten ein.

                                                                                             Tharau


                                                Moritten


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